Die ersten Bilder, die Wesley Earl Craven am 1. und 2. Oktober 1971 in Westport, Connecticut, für das Kino inszeniert, spielen im Haus einer durchschnittlichen amerikanischen Familie. Die gerade 17 Jahre alt gewordene Mari Collinwood duscht, liest in ihrem Zimmer mit Blümchentapete die Glückwunschkarten, geht zu den Eltern ins Wohnzimmer. Stunden später fällt Mari zusammen mit ihrer Freundin Phyllis einem brutalen Verbrecherquartett in die Hände. „Das letzte Haus links“ wird nach der Ermordung der Mädchen allerdings nicht zum Raum stiller Trauer, denn Maris Eltern haben schon bald die Mörder buchstäblich vor der Tür. Und nun wird reiner Tisch gemacht, sprich das Doktorenehepaar packt Messer, Kettensägen, Stromkabel aus, um den Tod der Tochter zu sühnen. Wes Craven und sein Produzent Sean S. Cunningham nutzten den Auftrag, einen kleinen schmutzigen Film für die Doppelvorstellungen Bostoner Drive-in-Kinos zu drehen, um dem Mythos von der sauberen Gewalt, wie er in Western, Kriegsfilmen und den Nachrichten über den Vietnamkrieg Tag für Tag zelebriert wurde, ein für alle mal den Garaus zu machen. Nie zuvor war Gewalt von Menschen gegen Menschen so brutal und schwer goutierbar auf die amerikanischen Leinwände geschwappt. Was die beiden Filmneulinge nicht erwartet hatten: der für 100 000 Dollar und mit einem Team von zehn Leuten gedrehte Schocker mauserte sich zum Überraschungshit und startete nach und nach selbst in den vornehmsten Filmpalästen.
40 Jahre später. Ab 31. Januar 2011 dreht der ehemalige Philosophieprofessor mit zehnmal soviel Leuten in einem Haus in Northville, Michigan, zusätzliche Szenen für die A-Produktion „Scream 4“. Wie schon in den ersten drei Teilen der 1996 installierten Neo-Slasher-Saga treibt ein Killer mit Munch-Maske ein böses Spiel mit Teenagern, die er nach der Ankündigung per Telefon, Facebook oder Twitter mit einem großen Messer drangsaliert, penetriert und tötet. Das Drehbuch stammt von Genre-Aficionado Kevin Williamson, finanziert wird das 40 Millionen Euro teure Spiel mit Tötungsängsten der Social-Media-Generation und den Konventionen des Gruselkinos von den Weinstein-Brothers, die nach Testvorführungen auf mehr Thrill beim Opening bestanden.
Rebellion gegen die Elterngeneration
Mit „Scream 4“ kommt nun der 20. Kinofilm von Amerikas Alptraum-Meister Wes Craven auf die Leinwände. Bezeichnend, dass es sich um eine Fortsetzung handelt, ohne große Wagnisse oder Neuerfindungen, ein routiniertes Serienprodukt für Twens, das sich aber clever der inszenatorischen wie analytischen Möglichkeiten Cravens bedient. Wie kein zweiter Regisseur rief der 1939 in Cleveland geborene „Nightmare“-Erfinder in seinen Werken immer wieder zu einer Rebellion gegen die Elterngeneration auf, die ihren Kindern immer nur Kriege, Gewalt und Alpträume hinterlassen hat. Nach den angeblich Degenerierten der Gesellschaft aus den Underground-Schockern „Das letzte Haus links“ und „Hügel der blutigen Augen“ ließ Craven in den achtziger Jahren mit Freddy Krueger („Nightmare – Mörderische Träume“) und Horace Pinker („Shocker“) zwei Lynchjustiz-Opfer auf das Spießbürgertum und deren Kinder los, bevor er, womöglich als Gipfel der Sozialkritik, in den „Scream“-Filmen die Killer in den vom Wohlstand ermatteten Mittelschichtfamilien selbst installierte. Zu wahrer Meisterschaft brachte es Craven nicht nur im Subtext, sondern auch in seinen Traumsequenzen. Schon in „Das letzte Haus links“ tauchte eine solche Szene auf, Jahre später schuf der Filmemacher mit Freddy Krueger ein Monster, das tatsächlich nur in der Traumwelt existiert – und trotzdem mordsgefährlich ist. Der streng gläubig erzogene Baptist, der zunächst als Lehrer arbeitete, bevor er in New York Cutter wurde, stellte in seinen besten Schockern explizit die Frage nach Schuld und Sühne – und hinterfragte dabei Gewalt als zu leicht goutierbares Unterhaltungselement. „Meine Einfälle kommen meist aus den Abendnachrichten. Nichts, was ich mir ausdenken kann, kann so schrecklich sein wie das, was wirklich in der Welt passiert. Die Nachrichten stecken voller Horrorstorys. Besonders Kinder kommen sich manchmal ausgesprochen hilflos angesichts der Dinge vor, die sich um sie herum abspielen.“ Craven verteidigt den Horrorfilm, weil sich in ihm das Grauen reflektieren lässt. Es bleibt nicht unwidersprochen. „Dabei“, so Craven, „hat mich das europäische Kino der sechziger Jahre mit Truffaut, Godard, Fellini und Bergman geprägt.“ Aus einem Kinobesuch von Bergmans „Jungfrauenquelle“ entstand schließlich „Das letzte Haus links“.
Hollywoodzwänge
Zweimal nahm Craven seine Erfolge als Anlass, um Neues auszuprobieren. Nach dem Überraschungserfolg seines erklärten Lieblingsfilms „Nightmare“ bereicherte er das Horror-Genre mit „Die Schlange im Regenbogen“ und „Shocker“, die äußerst deftig Profitgier, Todesstrafe und passiven Fernsehkonsum abwatschten, und Cravens ewiges Thema der Emanzipation brillant in komplexes, höchst relevantes Angstkino umsetzten. Zu „Shocker“ war gleich eine Fortsetzung angekündigt, vielleicht die einzige, die Craven wirklich jemals in den Fingern juckte. Doch dazu kam es nicht. Der Film war ein Misserfolg, die Produktionsfirma Carolco bald vom Markt verschwunden. Nach „Scream 2“ gönnte Craven sich das Drama „Music of the Heart“ mit Meryl Streep als sozial engagierter Geigenlehrerin, bevor er, einer neuen, ängstlichen Studiopolitik geschuldet, als Produzent zahlloser B-Filme und Remakes seiner Klassiker fungieren musste. Immerhin ließ er sich 2006 für das Remake „The Hills Have Eyes 2“ zu einem neuen Drehbuch hinreißen, in dem er gemeinsam mit Sohnemann Jonathan listig die dumpfe Kriegsmaschinerie des Militärs attackierte. „Die Tragödie der einen Generation ist der Witz der nächsten“, heißt es in „Scream 4“ zynisch, doch die Remakes von Cravens Filmen beweisen im Gegenteil die Zeitlosigkeit der Originale.
Nach dem erfolgreichen Flugzeugthriller „Red Eye“ (2005) und einem wunderbar leichten Ausflug ans Grab von Oscar Wilde für die Kurzfilmkompilation „Paris je t’aime“ (2006) verwirklichte er 2010, nach 16 Jahren, endlich wieder ein eigenes Drehbuch. Mit viel Empathie für seine jugendlichen Charaktere erzählt der minimalistische „My Soul to Take“ von sieben Teenagern, die sich in einer Kleinstadt dem Geist des Riverton Rippers, eines vor 16 Jahren aktiven Massenmörders, stellen müssen. Auf Kommentare zu aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen verzichtet der 70jährige Regisseur, stattdessen beobachtet er überwiegend ironiefrei eine Jugend, die Werte wie Freundschaft und Liebe verhandelt – und vor einem schwarzen Zottelmann abermals durch Wälder, Schlaf- und Wohnzimmer fliehen muss. Erneut sind die Eltern keine Hilfe und die Jungmänner und –frauen müssen selbst den Teufel austreiben. Der nachträglich in 3D konvertierte Film floppte noch heftiger als 1989 „Shocker“ und führte, kurz vor „Scream 4“, zu neuerlichen Abgesängen auf Cravens Horrorkino, das nie reaktionäre Geisterbahnfahrt oder Torture Porn à la „Saw“ sein wollte. Es spricht Bände, dass lediglich neun seiner Filme nach eigenem Drehbuch entstanden. Craven, der bereits mehrere Horrorwellen miterlebt hat, kann es sportlich nehmen. Als Schmuddelkind des Popcornkinos trägt der Horrorfilm besonders schwer an den Vorgaben des Studiosystems. Er ist und bleibt das Genre, bei dem sich am wenigsten vom Kassenerfolg auf die Qualität schließen lässt.
Filmographie Wes Craven:
Scream 4
USA 2011
My Soul to Take
USA 2010
Paris je t'aime
F 2006
Red Eye
USA 2005
Verflucht
USA 2004
Scream 3
USA 2000
Music of the Heart
USA 1999
Scream 2
USA 1997
Scream - Schrei!
USA 1996
Vampire in Brooklyn
USA 1995
Freddy's New Nightmare
USA 1994
Das Haus der Vergessenen
USA 1991
Shocker - No More Mr. Nice Guy
USA 1989
Die Schlange im Regenbogen
USA 1987
Der tödliche Freund
USA 1986
Nightmare - Mörderische Träume
USA 1984
Todestal der Wölfe
USA 1984
Das Ding aus dem Sumpf
USA 1982
Tödlicher Segen
USA 1981
Hügel der blutigen Augen
USA 1977
Das letzte Haus links
USA 1972
Remakes seiner Filme:
A Nightmare on Elm Street
USA 2010
The Last House on the Left
USA 2009
The Hills Have Eyes 2
USA 2007
The Hills Have Eyes - Hügel der blutigen Augen
USA 2006
trailer Ruhr verlost zum Kinostart von "Scream 4" am 5.5. 6 Fanpakete mit "Scream"-Maske und Kinoticket. E-Mail bis 11.5. an verlosung@berndt-media.de - Kennwort: Scream
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