Die Lese- und Konzertreihe „Café Schlaflos“ neigt sich dem Ende. Am 26.10. war es daher nochmal Zeit für ein echtes Highlight. Ins Katakomben-Theater im Essener Stadtteil Rüttenscheid luden renommierte JournalistInnen zur „Hate Poetry“. Was beim Poetry Slam selbstgeschriebene Texte jeder Art sind, sind bei der „Hate Poetry“ erhaltene Leserbriefe. Die derbsten, unfreiwillig komischsten und skurrilsten wurden an jenem Abend in vier Kategorien von ihren jeweiligen EmpfängerInnen vorgetragen. Die AdressatInnen: Mely Kiyak und Özlem Topcu, beide u.a. tätig für die ZEIT und Hasnain Kazim, Istanbul-Korrespondent für Spiegel Online und Ersatzmann für taz-Journalist Deniz Yücel. Durch den Abend führte die taz-Journalistin Doris Akrap.
Unkonventionelles Format
Dass alle LeserInnen einen Migrationshintergrund besitzen, ist kein Zufall. Als in Deutschland lebende, und über In- und Auslandsthemen berichtende JournalistInnen ist ihr geschriebenes Wort für viele LeserInnen nur von sekundärer Bedeutung und untrennbar verbunden mit ihrer Herkunft. Daraus ergibt sich ein nur selten objektives Bewertungssystem, welches die meisten Leserbriefe zu mindestens latent rassistischen Hassbriefen werden lässt. Ziel seit dem Debüt des Formats 2011 ist es primär, den rassistischen Anfeindungen vermeintlich aufgeklärter Menschen mit Bloßstellung und einer gehörigen Portion Humor zu begegnen. „Hate Poetry“ ist nämlich kein Slam und keine Lesung im herkömmlichen Sinne. Es ist ein mit Kabarett- und Theaterelementen gespicktes Spiel mit nationalem Stolz und ein grundsätzliches Infragestellen nationaler, stereotyper Identitäten. Dies wurde auch an diesem Abend deutlich.
Gut besuchtes Katakomben-Theater in Essen, Foto: Benjamin Knoll
Realität in vier Kategorien
Als Lesebühne fungierte im Katakomben-Theater ein mit Nationalflaggen, Discounter-Plastiktüten und Alkoholika gespickter Tisch. Als Intro lief „10 Jahre hier“ von Malek Samo, ein satirischer Abgesang auf die Aufenthaltspolitik hierzulande. Nach 08/15-Begrüßung, inklusive einiger Witze über die Austragungsstadt Essen, ging es dann auch direkt in die Vollen.
In der Kategorie „Sehr geehrter Herr Arschloch, sehr geehrte Frau Fotze“ gab es die beleidigensten Briefe auf die Ohren. So viel sei gesagt: „muslimische Hirtentochter“ gehörte noch zu den mildesten verbalen Ausschreitungen. Von Humor, Wein und Sekt erheitert, schlitterte man in die Kategorie „Abo-Kündigungen“, in der das zahlreiche Publikum fast schon Mitgefühl für den ein oder anderen Leser aufbrachte, da er es trotz zigfacher Ankündigung einfach nicht übers Herz brachte, sein Abo zu kündigen. Hier wurde deutlich, dass für manch einen Menschen der Leserbrief mehr als nur ein Mittel zur Meinungsäußerung ist. Für viele ist es auch ein nicht zu vernachlässigender Lebensinhalt.
Nach der Pause kamen in der Kategorie „Oper“ die eloquentesten Schreiber zu Wort, ehe zum Schluss die kürzesten Statements im Wechsel auf das Publikum losgelassen wurden. Nach gut 150 Minuten geballtem Hass ging der Abend zu Ende. Im Übrigen erlebte nicht das gesamte Publikum das Ende mit. Eine Hand voll ZuschauerInnen hatte bereits das Theater verlassen. Ob sie wegen des humoristischen, teils selbstdarstellerischen Umgangs mit den Hasstiraden Reißaus nahmen oder aufgrund eines vorgeführten Moscheeweckers den Saal verließen, bleibt ungeklärt. Klar ist hingegen: „Hate Poetry“ ist nichts für zarte Gemüter, die die schaurige Kehrseite freier Meinungsäußerung nicht aushalten können.
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