Vor hundert Jahren wurde „Die Ratten“ von Gerhart Hauptmann uraufgeführt. Natürlich in Berlin und nicht in Hagen. Dabei passt das Stück im gequält übertragenen Sinne auf die zeitgenössische Situation der überschuldeten Kommune am „Tor zum Sauerland“. Ihr Städtisches Schauspielhaus wurde am 5. Oktober 1911 eingeweiht, ein Jahrhundert später hat es den kleinsten Etat aller NRW-Bühnen, steht seit Jahren zur Disposition. Es ist ein typisches kulturelles Baby des gehobenen Bürgertums, das es zwar erwachsen werden ließ, nun jedoch dem morphinen Siechtum überlässt. Vielleicht sind die Rettung ja Wanderbühnen, die bereits 1832 hier gastierten oder eben eine Neuauflage der Theater-Aktiengesellschaft von 1909.
Sei es drum. Mit einem Sonderprogramm feiert das Theater in Hagen im Herbst sein hundertjähriges Bestehen. Große Sprünge sind da kaum zu erwarten. In der Festwoche kommt die Münchner Lach- und Schießgesellschaft, findet die „4. Internationale Aids Tanzgala“ statt und man führt das zeitweise verbotene Stück „Ehrensache“ von Lutz Hübner auf. Aber auch eine öffentliche Generalprobe von Loriots Wagner-Version „Der Ring an einem Abend“ verspricht Kurzweil. Kurzweil, das können sie in der Stadt, wo einst Nena, Extrabreit und die Humpe-Schwestern die Schulen unsicher machten, wo einst Schwerindustrie, Bier und Zwieback die Menschen ernährten, aber auch ein gewisser Karl Ernst Osthaus (Bankier und Mäzen) den „Hagener Impuls“ startete und deshalb Bauhaus-Architekten das Folkwang-Museum und eine rudimentär ausgeführte Gartenstadt hinterließen. Irgendwie ist alles weg, das Osthaus-Museum dümpelt, vor zwei Jahren ist das Emil Schumacher Museum eröffnet worden. Auf drei neu erbauten Stockwerken werden die Gemälde, Arbeiten auf Papier, Keramik und Porzellane Emil Schumachers in wechselnden Präsentationen gezeigt.
Zurück zum Kurzweil. Auch außerhalb der Festwoche bietet das Theater Unterhaltungschancen. Ausgerechnet Guildo Horn spielt im Hagener Musical "The Rocky Horror Picture Show" den Riff Raff. Zu sehen ist das erst im Januar und damit zeitgleich mit einer anderen tourenden Show gleichen Inhalts. Interessanter als Timewarp und Lab könnte ein ganz neues Musical werden, das zurzeit noch mit Schülern der Hagener Berufskollegs in Zusammenarbeit mit Theaterprofis entsteht. Auch „Beats" soll im Frühjahr gespielt werden.
Abwarten heißt Tee trinken, nur Kaffeefetischisten sind immer hibbelig. Die Spielzeit in Hagen beginnt im September mit der Premiere von „Die Fledermaus“. Die Inszenierung der Oper ist das Ergebnis einer Hagener Publikumsbefragung. Ein Drittel der Besucher wünschten sich die korkenknallende Operette von Johann Strauß, in der es eigentlich um nichts Wichtiges geht, außer das die feudale Oberschicht mal wieder lustige Beziehungsprobleme hat. Eigentlich sollten einem da sofort die auf Rosen gebetteten Wanderbühnen von 1832 einfallen, aber wie heißt es so schön bei Strauß: „Glücklich ist, wer vergisst“.
Festwoche 100 Jahre Theater Hagen I 5.-9.10. 2011 I Theater Hagen
Infos: 02331 207 32 18
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