An einem strengen Jungeninternat ermuntert der neue Englischlehrer die Schüler, aufs Lehrerpult zu steigen, um eine andere Perspektive zum Leben zu bekommen. Die Gesichter der angehenden Mediziner, Juristen und Bänker schauen überrascht, verständnislos, verächtlich. Monate später steht der Lehrer zum Abschied in der Tür. Er ist gekündigt, weil er am Tod eines Schülers schuld sein soll, der gegen den Willen des gestrengen Elternhauses und der allgemeinen Erziehungssitten Schauspieler werden wollte. Nacheinander erklimmen die Jungen nun die Pulte des Klassenraumes, um sich bei Mister Keating, gespielt von Robin Williams, stumm zu bedanken. Die Gesichter zeigen unendliche Trauer und auch Dankbarkeit.
„Die größte Errungenschaft des Kinos ist die Nahaufnahme – weit vor Ton, Farbe, 3D oder Computeranimation!“ Sagt Peter Weir, dessen „Der Club der toten Dichter“, aus dem die beschriebenen Szenen stammen, 1990 hierzulande zum größten Erfolg des australischen Meisterregisseurs wurde. Weirs Filme weisen zahllose bewegende Momente auf, meist festgehalten in besagten Close-ups. Unvergesslich der Augenblick, wo sich Gérard Depardieu und Andie MacDowell zweimal durch die Scheibe eines kleinen Cafés in New York anstarren. Einmal am Anfang des Films, einmal am Ende. Dazwischen liegt eine ganze Welt - obwohl es doch eigentlich nur die zwei selben Menschen am selben Ort sind. „Green Card“, Weirs einziger Film, für den er alleinverantwortlich das Drehbuch schrieb, erzählt von einer Scheinehe, die durch das nähere Kennenlernen zur großen Liebe wird. Fast möchte man meinen, der Plot beschreibe die allgemeine Funktionsweise des Kinos, das uns durch genaue Figurenzeichnung mit völlig Fremden bekannt und vertraut macht. Auch in seinem neuesten Werk „The Way Back – Der lange Weg“, einem mitreißenden Flüchtlingsabenteuer, sagen die Augen von Colin Farrell, Ed Harris und Jim Sturgess mehr als jeder Dialog – und spiegeln die bestürzende Grausamkeit der menschlichen Natur, die die berechenbaren Gefahren von Wüsten oder Gletschern locker überbietet. „The Way Back – Der lange Weg“ kann dabei durchaus als Apotheose von Weirs Kino gesehen werden.
„Australian New Wave“
Die Karriere des 1944 geborenen Australiers begann 1974 mit einer deftigen Satire auf den Kleinstadtmief und die Komplexität von Gruppenprozessen: „Die Autos, die Paris auffraßen“ entstand als unabhängiger, ironischer Horrorthriller und mauserte sich blitzschnell zum Kultfilm. Anders als sein amerikanischer Kollege Wes Craven, der zur gleichen Zeit mit „Das letzte Haus links“ durchstartete und dann erst mal eine mehrjährige Durststrecke vor sich hatte, bevor er zum reinen Genre-Regisseur wurde, bekam Weir schon ein Jahr später die Chance, den erfolgreichsten australischen Film der siebziger Jahre zu drehen. Der undurchsichtige Thriller „Picknick am Valentinstag“ wurde zum Höhepunkt der neuen australischen Welle, die kurz darauf Werke wie „Don’s Party“ oder „Mad Max“ hervorbrachte, und zu der Weir selbst noch „Die letzte Flut“, „Gallipoli“ und „Ein Jahr in der Hölle“ beisteuerte.
In Hollywood angekommen, gelang ihm 1985 mit dem Thriller „Der einzige Zeuge“ ein Überraschungserfolg, der auch in Deutschland wochenlang in den Kinocentern lief. Erneut mit Harrison Ford drehte Weir nur ein Jahr später das kompromisslose Aussteigerdrama „Mosquito Coast“, bevor er mit „Der Club der toten Dichter“ und „Green Card“ für Disneys glorreiche Komödiendivision Touchstone zwei Instant-Klassiker über die Bedeutung von Selbstbestimmung und Liebe in der modernen, kalten Zivilisation ablieferte. Immer wieder konterkarierte er in diesen vier Filmen Bilder von Naturlandschaften mit fragwürdigen Ritualen oder Bürokratien der Menschen.
Die Tücken der Zivilisation
Nach „Green Card“, der ihm erneut den Vorwurf der Amerikafeindlichkeit einbrachte, kam Weir erst mit „Fearless – Jenseits der Angst“ und „Die Truman Show“ wieder auf die Beine, zwei Werken, die auf ganz unterschiedliche Weise das Leben des Individuums in der Medienzeit spiegeln. Im neuen Jahrtausend begann dann auch für Weir der Kampf mit einem neuen, wenig wagemutigen Studiosystem: „Es ist furchtbar, denn es werden im Grunde nur noch Kinderfilme produziert.“ „Master and Commander – Bis ans Ende der Welt“ erfand 2003 das klassische Abenteuerkino neu, ähnlich dem nun startenden „The Way Back – Der lange Weg“. Beide Filme sind brillant inszeniert und recherchiert, und interessieren sich für den Menschen, der vor den Vorgaben und Angriffen der Gesellschaft flieht – in ein vermeintlich besseres, richtiges Leben. Die Suche nach ursprünglicher Menschlichkeit bleibt dabei Weirs großes, zeitloses Thema. Der Leitspruch des Clubs der toten Dichter von Henry David Thoreau lautet: „Ich ging in die Wälder, weil ich bewusst leben wollte / (...) Und alles wegwerfen, das kein Leben barg, um nicht an meinem Todestag / Gewahr zu werden, dass ich nie gelebt hatte.“
Filmografie:
1974: Die Autos, die Paris auffraßen
1975: Picknick am Valentinstag
1977: Die letzte Flut
1979: Wenn der Klempner kommt
1981: Gallipoli
1982: Ein Jahr in der Hölle
1985: Der einzige Zeuge
1986: Mosquito Coast
1989: Der Club der toten Dichter
1990: Green Card – Schein-Ehe mit Hindernissen
1993: Fearless – Jenseits der Angst
1998: Die Truman Show
2003: Master and Commander – Bis ans Ende der Welt
2010: The Way Back – Der lange Weg
"The Way Back - Der lange Weg" startet am 30.6. in den Kinos.
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