trailer: Herr Klingebiel , Wirtschaft ist auch ein politisches Machtinstrument. Wie wirken sich die EU-Sanktionen gegen Russland aus?
Stephan Klingebiel: Grundsätzlich haben wir immer ein enges Wechselverhältnis zwischen Wirtschaft und Politik und genauso umgekehrt. Natürlich wirken sich die Sanktionspakete der Europäischen Union stark auf Russland aus. Wir wissen, dass die Wirtschaft in Russland eingebrochen ist, sowohl, was die Exporte angeht, da ist es sogar noch ein bisschen stärker, aber auch bei den Importen. D.h., der Handel in Russland ist insgesamt sehr stark von den Sanktionen betroffen, aber auch die Wirtschaft, die über den Handel hinausgeht. Insofern erreichen die EU-Wirtschaftssanktionen ihre direkt gesetzten Ziele: Dass sie die Wirtschaft des Landes unmittelbar treffen sollen.
Wie zielgerichtet können Wirtschaftssanktionen sein?
Es gibt natürlich eine breite Diskussion darüber, ob und inwiefern Wirtschaftssanktionen ihre Ziele immer erreichen. Dabei geht es vorrangig darum, welche Ziele man verfolgt, denn diese können sehr unterschiedlich sein. Nehmen wir mal an, wir hätten eine Situation wie mit Nordkorea, bei der schon seit vielen Jahren sehr drastische Wirtschaftssanktionen bestehen. Es ist erklärte Politik, dass genau diese Sanktionen den Aufbau der Nuklearwaffen-Potenziale Nordkoreas beenden bzw. behindern sollen. Dennoch bleibt es fraglich, ob das mit den eingesetzten Mitteln überhaupt erreicht wurde. Was man aber in Nordkorea sehen kann, genauso wie in Iran oder in Russland, ist, dass diese Sanktionen natürlich harte Einschnitte bedeuten können. Ein Land wie Nordkorea kann sich aufgrund der bestehenden Sanktionen kaum entwickeln. Im Iran ist es zum Teil genauso, in Russland etwas weniger stark. Es hängt also mit verschiedenen Faktoren zusammen: Wie wirtschaftlich unabhängig ist ein Land, wird solch ein Sanktionsregime global betrieben, ist es von den Vereinten Nationen legitimiert oder nur von einer starken Gruppe? In Russland haben wir es derzeit mit einer Situation zu tun, in der erst einmal keine Koalition innerhalb der Vereinten Nationen besteht, die ein Sanktionsregime tatsächlich durchsetzen würde – dies ist wegen der Rolle Russlands als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates auch nicht erwartbar. Dieser Umstand und die Tatsache, dass die Wirtschaft, im Vergleich etwa zum Iran oder auch zu Nordkorea, besser dasteht, lässt Russland über mehr Optionen verfügen. Dass die ausgesprochenen Sanktionen allein die russische Politik zwingen, den Aggressionskrieg in der Ukraine zu beenden, sehen wir aktuell nicht. D.h. natürlich nicht, dass Wirtschaftssanktionen prinzipiell folgenlos blieben. Allein, dass die militärischen Möglichkeiten eines Landes wie Russland nun sehr viel eingeschränkter sind, ist eine direkte Folge aus den Sanktionen. Die Situation Russlands wird natürlich in der Welt sehr genau beobachtet, beispielsweise von Nordkorea. Hier wird darauf geschaut, wie die Reaktionen der einzelnen Akteure sind. Nachahmungseffekte anderer Diktaturen oder Autokratien können dadurch gegebenenfalls auch begrenzt werden. Das ist ein Punkt, der eben jenseits der derzeitigen russischen Aggression wichtig ist.
„Sanktionen, die so massiv sind, treffen erst einmal alle“
Wie wirken sich Sanktionen auf wirtschaftliche Eliten und auf die ärmere Bevölkerung aus?
Wir wissen natürlich, dass der Lebensstandard insgesamt in Russland in der Folge der wirtschaftlichen Sanktionen gesunken ist. Das gilt für alle Bevölkerungsgruppen: Sowohl für die Elite, deren international luxuriöser Lebensstandard natürlich immens eingebrochen ist, als auch für andere Bevölkerungsgruppen, außerhalb Moskaus oder Sankt Petersburgs. Sanktionen, die so massiv sind, treffen erst einmal alle.
Dann kommt es natürlich auf die Innenpolitik des jeweiligen Landes an: Welchen Versuch unternimmt die Regierung, um möglicherweise Einschnitte einzelner Gruppen auszugleichen? Aber diese Feinjustierung liegt natürlich nur sehr begrenzt in den Händen derjenigen Staaten, die diese Sanktionen auferlegen.
Die Welthandelsorganisation, die Weltbank und der Internationale Währungsfonds stehen in der Kritik, den globalen Süden zu vernachlässigen. Was ist zu tun?
Wesentlich ist der Aspekt, dass Länder des globalen Südens in vielen Foren einfach stark unterrepräsentiert sind. Dadurch haben sie weniger Einfluss in weltwirtschaftlichen Fragen, aber auch in Sicherheitsfragen. Für den Internationalen Währungsfonds gilt das genauso wie für die Weltbankgruppe, in der Länder anhand ihrer Anteile Stimmengewichte zugewiesen bekommen. Auch bei Clubs wie G20 lässt sich dieses Vorgehen erkennen. Darin sind einige starke Entwicklungsländer vertreten, aber bei Weitem natürlich nicht dergestalt, wie das auf Grundlage von Bevölkerungsanteilen oder anderen Faktoren gerechter oder sinnvoller wäre.
Wenn Sie etwa an Afrika denken – ein Kontinent mit 54 Ländern – dann ist es schon bemerkenswert, dass bei den G20 lediglich Südafrika vertreten ist. Südafrika fungiert dabei nicht etwa als Sprecher für den Gesamtkontinent, sondern spricht für sich selbst. Europa ist allein über vier Länder plus die Europäische Union vertreten. Von daher geht es erst einmal darum, wo Entscheidungen fallen und Entwicklungsländer überhaupt Mitsprache ausüben können. Große, mächtige dynamische Schwellenländer, wie allen voran China, mit Abstrichen aber auch Indien und einige andere, können natürlich ganz anders in Welthandel und –finanzen ihre Position einnehmen und zum Teil auch durchsetzen. Über die letzten Jahrzehnte läßt sich erkennen, dass sich die globale Arbeitsteilung insgesamt sehr stark auf China konzentriert hat. Selbst, wenn China - relativ gesehen - bei einigen Entscheidungen weniger stark vertreten ist, so hat das Land als einzelner Akteur mittlerweile dennoch eine Stellung, mit der es sehr stark die eigenen Interessen platzieren kann. Das sehen wir nicht zuletzt in Deutschland, wo unterdessen die große Abhängigkeit von chinesischer Ökonomie spürbar ist.
„Es geht darum, wo Entwicklungsländer überhaupt Mitsprache ausüben können“
Nicht zuletzt beim Hamburger Hafen ...
Der Einkauf in den Hamburger Hafen ist eines von vielen Beispielen. Wir haben in den vergangenen Monaten mit Blick auf Russland gesehen, dass weltökonomische Fragen wieder verstärkt zusammen gedacht werden. In Bezug auf Russland ist natürlich die Energiesicherheitsfrage nun eine ganz andere.
Wir beobachten das schon lange. Früher ging es darum, dort zu investieren, wo am kostengünstigsten produziert werden konnte und die größten Effizienzvorteile vermutet wurden. Diese Frage stellt sich mittlerweile anders. In der Politik, aber auch in Teilen der Privatwirtschaft, etabliert sich zunehmend eine Denkweise, in langfristig stabile Lieferketten zu investieren. Inzwischen werden also Lieferketten auch aus einer geostrategischen Perspektive betrachtet und diskutiert. Wir sehen es in Kontexten wie der Halbleiterindustrie, ebenso wie auch für medizinische Produkte, in denen verschiedene Faktoren nun eine Rolle spielen – im Zusammenhang mit Covid wurde das deutlich sichtbar. Mit Blick auf Taiwan lässt sich erkennen, wie wichtig die Halbleiterindustrie, d.h. Chips, für die europäische und auch die amerikanische Ökonomie ist und wie stark die Abhängigkeit dabei inzwischen von Asien ist. Insgesamt haben daher Welthandelsfragen eine sehr viel stärkere geopolitische Dimension bekommen.
„Es etabliert sich eine Denkweise, in langfristig stabile Lieferketten zu investieren“
In einer idealen Welt: Wofür könnten wir Wirtschaft einsetzen?
Wirtschaft ist natürlich erst einmal etwas, das Entwicklung im weiteren Sinne ermöglicht und den Wohlstand befördert. Das gilt gleichermaßen für den kleinen Marktplatz, den traditionellen um die Ecke, wie auch zwischen Handelspartnern über Grenzen hinweg. Wenn wir uns also austauschen, indem wir miteinander Handel treiben, dann können wir arbeitsteiliger vorgehen und Ökonomien insgesamt mehr und besser produzieren. Das war historisch für Entwicklungsprozesse wichtig, gilt aber für die heutige Zeit weiterhin. Damit verbunden sind auch Dinge, die Probleme hervorrufen können – denken wir an die planetaren Grenzen und internationale Ungleichheit. Zum Teil versuchen wir deshalb über Handelsfragen auch Themen wie Sozialstandards und Umweltfragen mit zu adressieren. Doch insgesamt ist Handel mit anderen Ländern ein Instrument, um den Wohlstand von Ländern zu fördern. In Fragen der Entwicklungspolitik ist dies natürlich ein ganz wichtiger Punkt. Praktisch alle Länder dieser Welt versuchen, über ihre komparativen Vorteile auch Entwicklungsprozesse zu befördern, um sich global besser aufzustellen. Gerade bei dynamischen Ländern sehen wir dies, angefangen von China über Singapur, Südkorea und auf dem afrikanischen Kontinent. Ihre rasche Dynamik haben diese Länder zu großen Teilen durch Außenhandel auslösen oder verstärken können. Von daher ist Handel ein ganz wichtiger Faktor für Wohlstand, auch um in Entwicklungsländern Menschen aus Armut befreien zu können.
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