In diesem Jahr trifft sich das Musik- und Sprechtheater zuerst einmal versöhnlich auf 500 Tonnen Sand. RuhrTriennale-Intendant Willy Decker inszeniert „Leila und Madschnun“, einen Text über die Ursubstanz der Liebe. Der Beduinenjüngling Qeis begegnet der jungen Leila. Beide entbrennen in tiefer Liebe zueinander. Die ungewöhnliche Intensität dieser Liebe provoziert ihr Umfeld, und Leilas Vater weigert sich, sie Qeis zur Frau zu geben. Die Liebenden werden getrennt. Qeis’ Schmerz über die Trennung steigert sich zum Wahn- sinn: Er wird Madschnun, der Verrückte. Zum Auftakt der RuhrTriennale 2010 hat Intendant Willy Decker „Leila und Madschnun“ inszeniert. Die theatralische Erzählung nach Nizami, einem persischen Dichter des 12. Jahrhunderts, ist Startpunkt zu einer Wanderung, zu einer Suche nach dem Weg. Auch mit dem Risiko in die Irre geführt zu werden.
trailer: Herr Decker, Sie haben oft von der Verrücktheit gesprochen, die es braucht, um Kunst zu produzieren. Wäre es ein Idealzustand, wenn wir alle verrückt wären?
Willy Decker: Das kommt ein bisschen darauf an, was man unter dem Begriff Verrücktheit versteht. Wenn sie hilft, Gewohntes, Alltägliches oder Sicheres loszulassen, sich nicht Mustern entsprechend zu verhalten oder zu denken, sondern den eigenen Blick zu verrücken, dann wäre das sicher ein guter Zustand. Verrücktheit ist in jedem Fall einer der Zündstoffe für Kreativität. Wer immer nur Sicheres will und immer nur das, was er schon kennt, wo er weiß, mein Fuß tritt auf festen Boden, der wird in der Kreativität nie wirklich ankommen. Ich glaube, ein gewisser Grad an Verrücktheit ist wichtig für Kreativität.
Die Produktion „Paradise“ für Zuschauer ab acht bis unendlich hat im September Premiere. Ist die Hoffnung auf ein Paradies nicht ein leeres Begehren?
Das Paradies ist ein mit ganz vielen Bedeutungen und auch Klischees und Illusionen angefüllter Ort. Für uns sollte das Wort Paradies eine Art Experimentierraum sein, in den man hineingeht und anfängt nachzudenken: Was wäre für mich wichtig, wenn ich zum Beispiel einen Augenblick, eine Situation in Ewigkeit festschreiben möchte? Das sagt uns rückwirkend viel über uns selbst aus, über das, was uns fehlt vielleicht. Dennoch ist Paradies in unserem Sprachgebrauch sicherlich ein abgenutztes Wort, auch ein stark missbrauchtes Wort. Insofern ist die Entleerung des Begriffs Paradies eine große Gefahr, und ich glaube, das ist auch schon weitgehend geschehen. Aber vielleicht lohnt es sich, noch mal draufzuschauen. Und wenn das nur bedeutet, dass man am Ende sagt: Komm, weg mit dem Wort.
In Ihren ersten beiden Triennale-Jahren wurde das Wesen des Judentums und des Islams untersucht. Liegen die Wurzeln der ewigen Pilgerpfade nicht wesentlich tiefer als die der relativ jungen mono- theistischen Religionen?
Mit Sicherheit. Wenn man sich bei den Religionen und deren spirituellen Traditionen auf die Suche nach ihren Wurzeln macht, dann findet man ganz tief und ursprünglich eine gleiche Quelle. Das wiederum äußert sich bei all diesen Traditionen in ihrer Mystik. Für mich war interessant, nach diesen Tiefen zu forschen und dabei festzustellen, dass in der Mystik alles in einer Urquelle zusammenfließt. Es stellt sich die Frage, wie sich das dann in verschiedene Zweige entwickelt hat. Wenn ich tief zurückgehe, da wo in allen Traditionen eine bestimmte Form von Meditation vorhanden ist, dann ist diese Meditation auch ein Raum, in dem sich Kreativität entwickelt. Ich als Künstler er- lebe das so. In der Meditation gibt es einen Punkt, wo beispielsweise der Zen-Meister vom Denken am Grunde des Nichtdenkens spricht.
In dem Stück „Du sollst ...!“ betrachten zehn Autoren die von einem Gott gesandten Steintafeln. Sind die Zehn Gebote heute noch eine gültige moralische Instanz?
Das ist genau die Frage, die sich da stellt und die dort gestellt wird. Bewusst von jungen Autoren, jungen Regisseuren und jungen Schauspielern, die ihre eigenen Antworten auf diese Frage geben werden. Es ist der Sinn des Abends, dass man unter jungen Leuten fragt: Hat das für uns noch eine bindende Bedeutung oder überhaupt noch eine Bedeutung? Können wir uns daran orientieren? Ist das ein Leitfaden oder nicht? Auch hier eröffnet sich also ein Diskussionsraum, in dem diese Aufforderung „Du sollst ...!“ auch mal mit einem Fragezeichen versehen gestellt und diskutiert wird.
Die RuhrTriennale ist inzwischen ein zentrales Theaterevent in Europa. Erreicht man da überhaupt Zuschauer, die eine Auseinandersetzung mit der Thematik der Urmomente nötig hätten?
Ich bin ganz fest davon überzeugt, dass vielleicht gerade die sogenannten Kulturmenschen diesen tieferen Blick brauchen, und dass er da vielleicht auch auf einen fruchtbaren Boden fällt. Denn die Fragen, die wir aufwerfen, werden für uns in den nächsten Jahrzehnten extrem relevant werden. Wir müssen ja miteinander reden, denn nicht nur die Grenzen zwischen den Religionen beginnen, global aufzubrechen, auch die klassischen Staatsformen lösen sich auf. Die Gesellschaften werden ganz anders werden: bunter, multikultureller, multireligiöser. Das erzeugt Fragen, die uns alle stark beschäftigen und bewegen werden. Dazu soll unser Programm einen Beitrag leisten mit den Mitteln der Kunst. Nicht wie in den intellektuellen Diskussionen, auch nicht wie Diskussionen, wie sie in den Medien geführt werden, sondern in spezifisch künstlerischen Auseinandersetzungen.
Verlieren die westlichen Gesellschaften immer weiter ihre Spiritualität, weil die Rituale verein- nahmt werden? Was bleibt da am Ende?
Vollkommen richtig. Es droht ein extremer Verlust, aufgesaugt von Äußerlichkeiten, sehr stark aufgesaugt von Werbung. Jede Automarke macht jetzt Werbung mit einer Buddhafigur oder einem Engel oder was weiß ich. Das ist aus meiner Sicht hochgefährlich. Da geht eine ganz große Dimension von menschlicher Möglichkeit verloren. Es formiert sich ja auch zunehmend eine Gesellschaft, die mit Recht als kalt bezeichnet wird, weil diese spirituellen Dimensionen verloren gehen. Eine der zentralen Aufforderungen, die jede spirituelle Tradition fordert, ist die, das eigene Ich zu überwinden. Und davon sind wir jetzt schon weit entfernt und entfernen uns immer weiter. Das Ich tritt geradezu götzenhaft in das Zentrum. Und Selbstlosigkeit, es gab Zeiten in der Geschichte, wo das selbstverständlich war, die ist für uns nahezu eine Terra Incognita geworden, also etwas, das nicht mehr existiert. Ich glaube, dass man gegen den Verlust, der schon eingetreten ist, ansteuern kann und sollte.
Zur Person
Der Kölner Willy Decker studierte Philosophie, Theater- und Musikwissenschaft und Gesang in seiner Heimatstadt. Er begann als Regieassistent in Essen und an der Oper Köln, wo er bald als Oberspielleiter fungierte. Schon sei- ne ersten eigenen Operninszenierungen Ende der 70er Jahre erregten internationale Aufmerksamkeit. 2006 erhielt er den Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen.
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