Langsam wird es langweilig mit den Minarett-Verbotsschildern zu jedem Wahlkampf. Markus Beisicht, Vorsitzender der rechtsradikalen Organisation Pro Köln, wird nun aber endlich ein neues Thema ausschlachten können. Geliefert hat es das Landgericht Köln mit seinem Zipfel-Urteil. Beschneidungen zu religiösen Zwecken haben die Richter der Domstadt untersagt. Die Rechtskrakeeler werden umgehend reagieren. Wahrscheinlich sind die Plakate mit blutverschmierten Scheren und genitalverstümmelten Jungs bereits in Druck. Rabiate Rabbis und muffige Muftis starren dann von großformatigen Werbetafeln gierig auf des Knaben Wunderhorn. Parteigänger der Pro-Bewegung werden, um den Konflikt um das Abendland-rettende Häutchen weiter aufzuheizen, ihre intakten Geschlechtsteile vor Versammlungsorten militanter Islamisten im Wind baumeln lassen, um pressewirksame Zwangsbeschneidungen zu provozieren. Gegen das, was uns erwartet, war die Randale zwischen Pro-NRW-Volksgenossen und Salafisten vor der letzten NRW-Wahl ein Ponyhof.
Tatsächlich unterscheiden sich die Weltreligionen am kleinen Unterschied fundamental. Während bei Juden und Muslimen geschnibbelt wird, was das Zeug hält, vergreifen sich Vertreter christlicher Glaubensgemeinschaften niemals an den Geschlechtsorganen kleiner Jungs, zumindest nicht chirurgisch. Deshalb bietet sich diese archaische Form der Religionsausübung auch jetzt im Sommerloch so gut an, als Schwein durch das feuilletonistische Dorf gejagt zu werden. Die beiden anderen mosaischen Religionen, die sich ansonsten gern spinnefeind sind, wurden aber auch schon früher von Christen misstrauisch betrachtet. Mitteleuropäische Tierschützer protestieren gegen das Schächten, kaufen aber gern Fleisch aus Massentierhaltung und Schlachtfabriken. Muslimische Frauen, die sich verschleiern, werden von Männern übelst unterdrückt, erklären uns manche Medien und Gesetzgeber. Christliche Frauen, die völlig unverschleiert zuweilen schon mal unfreiwillig in der Sexindustrie arbeiten, nimmt der Schleierverbieter hingegen billigend in Kauf. Es scheint wirklich zwei Götter zu geben auf dieser Welt. Und es gibt ein Wort, das diesen Zustand beschreibt: bigott.
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Debatten statt Proklamationen
So sehr es zu verurteilen ist, dass rechte Kreise die Debatte für ihre Zwecke instrumentalisieren, ist es nicht auch höchst polemisch, wenn Pichas Goldschmidt sagt, es handele sich bei dem Beschneidungsurteil um den "...vielleicht gravierendsten Angriff auf jüdisches Leben in Europa nach dem Holocaust"? Der Vergleich hinkt nicht nur, sondern ist einseitig amputiert.
Bei der wechselvollen Geschichte der drei monotheistischen Religionen ist es außerdem erstaunlich, dass die Bischofskonferenz den Muslimen nun helfend zur Seite eilt. Hätte das Urteil eine dauerhaft einigende Wirkung, hätte es in der Tat einen Sinn. Das angestrebte Ziel - nämlich der Schutz von wehrlosen Kindern - scheint kaum erfüllbar, denn ein Verbot wird diese Tradition keinesfalls beenden, sondern diejenigen, die unbedingt daran festhalten wollen, nach (gefährlicheren) Alternativen suchen lassen. Generell finde ich ein Verbot in derlei Fragen schwierig, Parallelen zu dem immer wieder diskutierten NPD-Verbot drängen sich auf und vielleicht gilt auch hier, dass eine Demokratie das aushalten muss?
Wenn dann allerdings ein anonymer Beschnittener und Beschneidungsbefürworter seinen Erfahrungsbericht mit den sinngemäßen Worten schließt, dass es letztlich an einem selbst läge, ob man später an Gott glaubt oder Atheist ist und nicht an einem Stückchen Haut, drängt sich die Frage auf, was die Beschneidung dann überhaupt soll?
Dennoch wirken Verbote allein nicht. Säkularisierung, Aufklärung geht anders, nämlich nur mittels öffentlicher Debatten ohne schwarz-weiß-Fronten und die Forderung, radikal Stellung zu beziehen und einfache Lösungen zu proklamieren, die so undifferenziert nicht sein können. Wie das nicht wirksame Verbot - auch wenn es sich um einen anderen Kulturkreis und übrigens auch unvergleichbar größeren Schaden für Leib und Leben handelt - weiblicher Beschneidung zeigt. Die trotz offizieller Ächtung, die ja gut und schön ist, auch mal wieder Teil einer derart weitreichenden Debatte sein könnte. Aber wen interessiert schon Afrika, das so weit weg ist?
Als Randnotiz sei erwähnt, dass die Beschäftigung mit Genitalien und Sexualität bzw. die Vermeidung selbiger durch Judentum, Christentum und Islam schon zwanghaft anmutet. Freud lässt grüßen.
Die von Lutz Debus angesprochene Doppelmoral zwischen säkularer und religiöser Welt ist offensichtlich, aber die besonders in der katholischen Kirche gültige Scheinheiligkeit (Verhütung, Homosexualität, vom ungelenken Umgang mit dem Missbrauch gar nicht zu sprechen) sollte vielleicht auch stärker in den Fokus der Justiz rücken. Theologische Fakultäten an säkularen Bildungsanstalten in Frage zu stellen wäre ein guter Anfang, mal vor der eigenen, westlichen Türe zu kehren....
Wir debattieren über die anderen
Lutz Debus hat Recht. Das Beschneidungsverbot wird den Rechtspopulisten in die Hände spielen. Aber die ProNRW-Fraktion und die Eiferer von Politically Incorrect werden jede Gelegenheit nutzen, um ihrem Rassismus einen rationalen Schein zu verleihen. Darauf muss ein Gericht keine Rücksicht nehmen und sollte es auch nicht.
Womit wir gleich beim Problem sind. Dass junge Männer unter ihrer traditionellen Beschneidung leiden können, ist eine Erkenntnis, die so neu nicht sein dürfte. Dass es aber erst eines höchstrichterlichen Urteils bedurfte, um diese Tatsache in die Öffentlichkeit, macht mich ein wenig skeptisch, inwiefern diese Debatte wirklich durch eine aufrichtige Sorge für das Kindswohl motiviert ist oder ob es nicht wieder darum geht, die Überlegenheit des deutschen Verwaltungsstaats gegenüber den 'unzivilisierten' Muslimen zu demonstrieren. Der Staat als Ausdruck der allgemeinen Vernunft - das sollte skeptisch machen. Gründe dafür gibt es genug. Zum einen weil die Geschichte der christlichen Beschneidungen in der Debatte regelmäßig ausgeblendet wird. Damit meine ich nicht nur die Verehrung der Vorhaut Jesu als Reliquie, sondern vor allem diejenigen Christen, die ihre Kinder beschneiden lassen, weil sie sich davon versprechen, dass die sexuelle Aktivität ihrer Sprößlinge darunter leiden wird.
Und auch in einem zweiten Punkt zeigt sich das hoheitliche Gottvertrauen der Deutschen in ihre nicht gewählten Autoritäten. Das Gerichtsurteil hätte den Anstoß zu etwas geben können, was zugleich simpler und schwieriger als eine Debatte ist: ein Austausch von Erfahrungen. Man muss das Thema 'Beschneidung' nicht nur in den abstrakten Kategorien des Grundgesetzes oder den vermeintlich objektiven Erkenntnissen der Medizin diskutieren. So wichtig Expertenwissen in der Umsetzung eines gesellschaftlichen Willens ist, im Prozess der Willensbildung hat es keine privilegierte Stimme, sondern muss mit Argumenten überzeugen. Und Aussagen wie "Die Medizin sagt" und "Das Grundgesetz sagt" sind eben keine Argumente, sondern lediglich ein Berufen auf Autoritäten.
Die für mich interessantesten Beiträge in dieser Debatte auch diejenigen, in der möglichst viele Stimmen von Betroffenen versammelt waren, gleichgültig, ob diese vom Journalisten Hannes Stein kommen, der seine traditionell jüdische Beschneidung für richtig hält, oder vom muslimisch-stämmigen Schriftsteller Najem Wali, der die eigene Beschneidung als "Folter" beschreibt. Von einer wirklich aufgeklärten Debatte erwarte ich, dass all diese Stimmen gehört werden. Ansonsten ist es keine gesellschaftliche, sondern eine Strohmann-Debatte. Und in dieser haben diejenigen, die ihre Strohmänner perfekt konstruieren, leider die besten Chancen.
Naturbelassen
Natürlich ist für die meisten Christenmenschen der Fall ziemlich klar. Wer lässt sich schon gern unnötig am eigenen Körper rumschnibbeln. Eltern von Kindern mit abstehenden Ohren sehen das bei jenem am Kopf befindlichen Körperteil oft ganz anders. Da wird geschnibbelt, um einem vermeindlichen Schönheitsideal zu entsprechen.
im Verbieten..
Wieder einmal ein sehr interessanter Artikel... ich meine, man sollte es so lassen, wie die Natur es gegeben hat.
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