trailer: Herr Welzer, warum kümmert sich ein Sozialpsychologe um den Klimawandel?
Welzer: Der Klimawandel ist kein Problem, das sich mit dem üblichen Drehen an der einen oder anderen Stellschraube bewältigen lässt. Ökosteuer, Wohnungsmodernisierungsprogramme, finanzielle Förderung regenerativer Energien, all diese ganzen Projekte sind schön und gut. Man sollte sie auch forcieren. Wir haben es aber mit einem Problem zu tun, das sich allein so nicht bewältigen lässt. Normale Probleme haben einen Horizont. Wenn man sagt, man macht jetzt dies und das, dann hat man das Wesentliche getan, und irgendwann wird es besser. Das ist beim Klimawandel wegen der zeitlichen Dimension nicht möglich. Die Probleme, von denen wir reden, wurden vor 40 Jahren verursacht und das, was wir jetzt versuchen, wird allenfalls in 40 Jahren eine Wirkung zeigen. Wir haben ein völlig neues Problem und können da nicht mit gebrauchten Ideen dran gehen.
Welche neuen Ideen brauchen wir?
Es gibt viele Beispiele. Setzt man weiter darauf, dass man Baugebiete für Eigenheime ausweist oder ist das aus ökologischen Gründen gar nicht vertretbar? Setzt man weiter auf traditionelle Verkehrswege? Das ist im Ruhrgebiet die Autobahn. Wir müssen uns verschärft darum kümmern, Mobilität zu reduzieren und öffentliche Angebote attraktiv zu machen. Es geht also um Fragen, die grundlegend unsere gegenwärtigen Lebensformen thematisieren.
Vieles von dem, was Sie ansprechen, haben die Grünen bereits vor 30 Jahren gefordert und trotzdem bislang nicht die absolute Mehrheit bei Bundestagswahlen erhalten.
Natürlich brauchen wir einen Bewusstseinswandel. Aber dafür ist genug Potential da. Die Menschen sind inzwischen wirklich beunruhigt. Und man muss auch anders argumentieren als früher. Der Fehler der klassischen Ökobewegung lag darin, dass man mit Verzicht argumentiert hat. Verzicht ist psychologisch nicht attraktiv. Man kann im Gegenteil einen Gewinn an Lebensqualität entdecken. Mobilität an sich ist kein Gewinn an Lebensqualität. Mobilität ist zunächst ein Gewinn an Stress. Mit dem Auto zum Bahnhof, mit dem Zug zum Flughafen, dann am Zielort dasselbe noch mal – Geschäftsreisende praktizieren diese Tortur oft mehrmals im Monat. Da läuft doch etwas schief. In Zeiten moderner Kommunikationsmittel via Internet wäre es viel einfacher und bequemer, zu Hause oder zumindest am Arbeitsplatz zu bleiben. Trotzdem erhöht sich das Verkehrsaufkommen ständig.
Das sind Argumente, die man in Freiburg hört. Aber in Dortmund, Gelsenkirchen und Bochum ticken die Uhren doch ein bisschen anders?
Wo ist das Problem? Es ist doch naheliegend, die Kulturhauptstadt als Startingpoint zu nehmen für die Entwicklung des Ruhrgebiets zu einer Umweltregion. Die Probleme, die wir zu bewältigen haben, gehen ja auf die massiven Industrialisierungsprozesse zurück, für die das Ruhrgebiet als Symbol steht. Es ist doch möglich, die alte Industrieregion in eine zukunftsweisende Energieregion umzuwandeln. Diese würde dann nicht mehr die grenzenlose Vernutzung von Energie betreiben, sondern den intelligenten Rückbau von Energieverbrauch. Gerade als Ballungsraum bieten sich phantastische Möglichkeiten an, die Mobilitätsfrage ganz anders zu beantworten.
Sie wollen die A 40 als U-Bahn begreifen?
Wie auch immer. Man wird keine Modellregion werden, wenn man noch ein paar Autobahnen dazu baut.
Die alte SPD-Garde, Wolfgang Clement, Franz Müntefering, haben doch schon ein quasi amouröses Verhältnis zur Kohle, zum Stahl, zum Beton, zum Asphalt und zum Auto. Was machen Sie mit denen?
Die kann man wohl nicht mehr überzeugen. Dieser mittelfristig radikale Umbau braucht Akteure, die so etwas denken und auch mittragen können. Der Rückbau von falschen Optionen ist ein Gewinn, kein Verlust. Wir gewinnen an Lebensqualität, wenn wir nicht ständig mit einem schlechten Gewissen durch die Welt laufen müssen, weil wir die Zukunft der eigenen Kinder und Enkel versauen.
Dem Auto wohnt doch eine gewisse Symbolkraft inne.
Auf der Osterinsel war das Bauen von riesigen Steinskulpturen auch von höchstem Symbolwert. Weil man für das Aufstellen dieser Skulpturen viel Holz benötigte, wurde die Insel gerodet und war danach nicht mehr bewohnbar. Symbolwerte, die über Jahrzehnte oder gar ein Jahrhundert tradiert wurden, können sich überleben und sogar als kontraproduktiv erweisen.
Ich bin noch nicht ganz überzeugt. Für einen sozialdemokratischen Kanalarbeiter ist doch das Auto so etwas wie für den Papst das Weihwasser.
Das mag schon sein. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht ist das aber kein Argument. Im Unterschied zu jemandem, der direkt vor Ort politisch involviert ist, haben wir im KWI ja die Freiheit, nicht zuerst an Sachzwänge zu denken. Wir können zunächst das Konzept denken. Wenn man nur in Sachzwängen denkt, kommt man natürlich doch wieder nur auf den Ausbau der Autobahnen.
Wie funktioniert Bewusstseinsveränderung hin zu ökologischem Handeln?
Es funktioniert, indem man ökologisches Handeln attraktiv macht. Attraktiv kann es sein, wenn man durch weniger Mobilitätszwang mehr Zeit hat, wenn man durch andere Verkehrsstrukturen mehr Erholungsräume schafft, wenn man durch verringerte Lärmemissionen besser schlafen kann. Der Nebeneffekt ist CO2-Reduktion, der Haupteffekt ist der Gewinn an Lebensqualität. Dann ist man aus dem Verzichtsdilemma der alten Ökobewegung raus.
Wir brauchen also keine Umerziehungslager für Hummer-Fahrer?
Das funktioniert doch eh nicht. Die Hummer-Fahrer muss man von der Straße kriegen, indem es irgendwann einmal als peinlich erscheint, mit einem SUV mit 500 PS durch Gelsenkirchen zu brettern. Ich kann Ihnen auch noch ein Geheimnis verraten. Porsche Cayenne wird ja nur von den Leuten gefahren, die in den 911er aus Altersgründen nicht mehr einsteigen können. Es ist in dem Alter zu unbequem, sich in einen Sportwagen einzufädeln. Deshalb fahren so viele Cayennes durch die Gegend, und aus demselben Grund entstanden auch deren Derivate, all die anderen SUVs. Wenn nun in der Öffentlichkeit die Meinung verbreitet wäre, dass diese Kisten nicht nur die Umwelt versauen,sondern auch, dass da nur alte Leute mit rumfahren, dann wäre das für deren Absatz nicht förderlich.
In Ihrem Interview in der taz sagten Sie, dass sich in Russland kein Schwein für den Klimawandel interessiert. Im Ruhrgebiet gibt es Wohnquartiere, in denen viele Menschen mit Migrationshintergrund wohnen. Interessieren sich diese Leute für den Klimawandel?
Es wäre vermessen zu glauben, dass man einen Bewusstseins- und Lebensstilwandel bei hundert Prozent der Bevölkerung durchsetzen kann. Es wäre aber doch zunächst einmal schon gut, wenn diejenigen, die materielle Handlungsspielräume haben, ihren Lebensstil ändern. Bis dieser Wandel bei einer breiten Bevölkerungsmehrheit angekommen ist, wird das natürlich eine Weile dauern. Aber die Breitreifen und der Daytona-Auspuff sind irgendwann auch einmal bei der Masse der Autofahrer angekommen. Warum sollte nicht einmal der Hybrid-Toyota populär werden?
Stichwort RUHR 2010. Sehen Sie auch kulturelle Möglichkeiten, einen Bewusstseinswandel zu erreichen?
Natürlich könnte man während des Kulturhauptstadtjahres hier vorführen, was möglich wäre. Wir könnten RUHR 2010 als Startpunkt nutzen, um intelligente Energienutzung zu präsentieren. Auch bei der EXPO 2000 wurde überlegt, genau das zu zeigen. Man sagte, die Weltausstellung klassischen Typs ist in Zeiten des Internets nicht mehr angesagt. Aber diese Chance ist in Hannover nicht genutzt worden. Es gibt so gut wie keine Nachnutzung der Anlagen und Investitionen. So ist es möglich, dass auch RUHR 2010 diese Chance vergibt.
Was wünschen Sie sich von RUHR 2010?
RUHR 2010 sollte nicht unter der Prämisse laufen: „So retten wir die Welt“ sondern sollte vermitteln, dass durch Klimaschutz die Lebensqualität steigt und das ganze sogar Spaß machen kann.
Zum Thema Kino. In den Siebzigern gab es „Smog“ von Wolfgang Menge. Es gab „The Day after tomorrow“ und kürzlich den Katastrophenfilm von Al Gore. Kann das Kino die Welt retten?
Es gibt Filme, die mich sehr geprägt haben. „Nacht und Nebel“ war ein Film über Auschwitz. „Im Laufe der Zeit“ von Wim Wenders zeigte verödete Zonenrandlandschaften. Jeder kann prägende Filme nennen, die nicht einfach nur Film bleiben, sondern in das eigene Bewusstsein eingehen und eine politisierende Wirkung haben. Das bezieht sich aber nicht nur auf das Kino. Ich habe gerade das Buch „Die Straße“ von Cormac McCarthy gelesen. Wer dieses Buch liest, ist nicht scharf darauf, dass diese Welt so weiter funktioniert, wie sie es bislang tut. Diese Endzeitvision ist sehr eindringlich dargestellt. Natürlich, Kultur verändert Menschen.
Wie wird der Ruhrie den Klimawandel erfahren?
Der Ruhrie erfährt ihn schon. Wenn er im Bergischen Land wandern möchte, wird er vorher zum Arzt gehen und sich gegen Hirnhautentzündung impfen lassen. Früher waren Zecken, die Enzephalitis übertragen, ein südeuropäisches Phänomen. Inzwischen finden wir solche Zecken in Norwegen. Die Veränderung der Verbreitungsgebiete von Krankheitserregern wird uns in der Zukunft auch in der Ruhrregion sehr beschäftigen.
Die Ruhr und die Emscher werden aber nicht über ihre Ufer treten?
Das nicht. Aber der Migrationsdruck wird zunehmen. Dies wird wieder die Gefühle der Menschen beeinflussen und damit verbunden deren Wünsche an das politische System.
Welchen Lichtblick bieten Sie an?
Der Klimawandel ist zwar einer der größten Bedrohungen, denen sich die Menschheit in den vergangenen hundert Jahren ausgesetzt hat, aber er bedeutet auch einen kulturellen Startpunkt, die Dinge in Zukunft anders zu tun.
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