Fast musste sie auf die Bühne getragen werden. So sehr von der Rolle war Conchita Wurst, als sie Ihren Song als Gewinnerin des European Song Contest noch einmal vortragen sollte. Oder war sie gar so sehr in ihrer Rolle als Schlagerdiva gefangen, dass sie gar nicht anders konnte als zu hyperventilieren? Fassungslosigkeit und Tränen filmten die Kameras von ihrem Gesicht ab. Die 180 Millionen Zuschauer an den Fernsehern reagierten gespalten. Während die einen den Untergang des Abendlandes prophezeiten und die Darbietung der Kunstfigur Wurst für künstlerisch katastrophal oder moralisch verwerflich hielten, jubelten die anderen über den Tabubruch und das Statement gegen Intoleranz und Homophobie. „Rise Like a Phoenix“ bekam sogar von Russland fünf von zwölf möglichen Punkten, nur zwei weniger als von Deutschland. In beiden Ländern drückte das Votum der Fachjury die Wertung der Publikumsanrufe erheblich. Sonst hätte der österreichische Beitrag sogar noch mehr Punkte erhalten. Während in Russland die Jury quasi aus Rücksicht auf die offizielle, schwulenfeindliche Regierungspolitik den Auftritt des Travestie-Künstlers abwerten musste, übernahmen dies bei uns der angeblich geläuterte Gangster-Rapper Sido und seine Jury-Kollegen. Tatsächlich wurde der harmlose Schlagerwettbewerb zum Politikum. Nicht nur aus Moskau, sondern auch von der Katholischen Kirche Österreichs kamen scharfe Proteste.
Dabei machte der Beitrag nur deutlich, was in den Clubs und Boutiquen in den westlichen Metropolen sowieso Usus ist: Anything goes. Schaut man in die Glitzerwelt des Showbusiness, so bilden Heterosexuelle nur noch eine, wenn auch große, Minderheit. Schon in den 1970er Jahren, als Stars wie David Bowie oder Mick Jagger anfingen, mit den Geschlechterrollen zu spielen, verschwammen die Grenzen zwischen Frau und Mann. Wurst erscheint heutzutage geradezu als brav im Vergleich zu dem bestrapsten und verruchten transsilvanischen Transsexuellen aus der Rocky Horror Picture Show. Warum, so fragt man sich, gibt es also diesen Wirbel um den Schlagersänger, der aussieht, als wäre er einem romantisierenden Ölgemälde, auf dem Jesus als guter Hirte abgebildet ist, entsprungen?
Das „Anything goes“ bewirkte in den letzten Jahren eine heftige Reaktion derjenigen, die Angst vor dem Fremden haben. In Russland, der Türkei und anderen totalitären Staaten wird der Kampf gegen das westliche Anderssein instrumentalisiert, um der Bevölkerung einen äußeren Feind zu liefern und damit die Macht der jeweiligen Regierungen zu stabilisieren. Aber auch in Deutschland sind nicht alle Menschen tolerant. Wenn die Kulisse nicht der Rote Teppich, der Laufsteg oder die Schlagerbühne ist, sondern das Betonghetto, der Hinterhof oder der mattlackierte BMW, wenn es statt nach Parfum nach Benzin riecht, dann gibt es sehr wohl auch bei uns Hass gegen das Anderssein. Nicht nur Sido, auch viele andere ruppige Rapper predigen versteckt oder auch ganz offen Gewalt gegen alle, die nicht knallharte Heteros sind. Während vor 50 Jahren noch fast alle Gewalt gegen Schwule vom Staat ausging, steigt gegenwärtig die Zahl der Hate-Crimes gegen Homosexuelle.
Die Aufregung um Conchita Wurst verdeckt übrigens einen ganz anderen Umstand. Das Ausleben sexueller Orientierung hat nur begrenzt etwas mit Mode oder Trend zu tun. Und es geht mitnichten nur um die Frage homosexueller oder heterosexueller Orientierung. Die menschliche Sexualität ist viel zu komplex, als dass man sie in nur zwei Schubladen einsortieren könnte. In Dortmund und Hagen ist seit kurzem der Verein „TransBekannt“ aktiv. Dessen zweiter Vorsitzender, der unter dem Pseudonym Ben Anders an die Öffentlichkeit tritt, um berufliche Nachteile aber auch gewalttätige Übergriffe zu vermeiden, glaubt,dass in einer Stadt wie Dortmund 5.000 bis 10.000 Transsexuelle leben. Diese Menschen, die schlicht in einem falschen Körper geboren wurden, würden sich selbst nicht als homosexuell bezeichnen. Trotzdem waren und sind sie ähnlichen Stigmatisierungen ausgesetzt. Früher wurden diese Menschen mit Elektroschocks und Hirnoperationen zwangsbehandelt. Exorzisten versuchten sich an ihnen. Erst in diesem Jahrtausend befasst sich medizinische Forschung wohlwollender mit Transsexualität. So belegen Studien, dass sich „männliche“ von „weiblichen“ Hirnzellen unterscheiden. Tatsächlich haben Frauen, die mit einem männlichen Körper geboren wurden, trotzdem ein Hirn mit weiblichen Hirnzellen. Lapidar gesagt, hat eine Transfrau ein weiblich ausgeprägtes Gehirn aber einen männlichen Körper darum.
Natürlich gibt es noch viele andere Gruppen in unserer Gesellschaft, die wegen ihrer Andersartigkeit stigmatisiert werden: Transvestiten, Metrosexuelle, Transgender, Fetischisten. Letztlich gilt auch für diese Menschen das, was Ben Anders für den Umgang mit Transsexuellen fordert: „Vorurteile sind den Menschen anerzogen worden. Aber wir können nichts dafür, transsexuell zu sein. Vorurteile kann man ändern. Wir Transsexuelle aber können unsere Identität nicht ändern.“
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