Riccardo hat es bis an die Spitze geschafft: Er ist der Gouverneur, er hat die Macht. Aber das Geschäft ist ein nüchternes. Was ihm fehlt in seiner ausgeprägten Selbstverliebtheit, ist der Glanz, der Glamour, den er nur auf der Leinwand findet. So hängt er am liebsten seiner Traumwelt im privaten Kinosaal nach, während seine Gegner schon die Messer wetzen. Das Theater Hagen zeigt Verdis „Ein Maskenball“ als großes Kino auf der Opernbühne. Regisseur Roman Hovenbitzer gelingt gleich zu Beginn der entscheidende Kunstgriff, der den ausgiebigen Einsatz von Videoeinspielungen plausibel macht. Sein Riccardo lebt in seinem eigenen Film, einem altmodischen Stummfilm mit großen Gesten und großen Gefühlen fernab der Realität.
„Das Publikum bekommt eine Menge zu sehen“, hatten Hovenbitzer und Ausstatter Jan Bammes angekündigt und nicht zu viel versprochen. Opernpuristen mögen sich an der einen oder anderen Stelle erschlagen fühlen von der Dichte der optischen Eindrücke oder auch von deren Plakativität. So überlagert die Regie zuweilen dynamisches Bühnengeschehen mit schnell bewegten Videoeinspielungen, die zeitgleich auf einen halb durchsichtigen Gazevorhang projiziert werden. Und sie treibt die Gruselmotive in den ersten beiden Akten so sehr auf die Spitze, dass sich das Publikum vorübergehend in einen altmodischen Horrorfilm versetzt sieht. Vom Zuschauer verlangt dies Aufmerksamkeit, es weckt sie aber auch. Und wer lebendiges Musiktheater mag, wird sich niemals langweilen in dieser aufwändigsten Produktion der gesamten Hagener Spielzeit. Öde Rampengesänge gibt es an keiner Stelle. Momente, in denen Ruhe einkehren darf, gibt es aber durchaus.
Für die Hagener Sopranistin Dagmar Hesse, die die Amelia singt, stand die Produktion zunächst unter keinem guten Stern. Sie erkrankte wenige Tage vor der Premiere und musste bei den ersten Vorstellungen durch Kelly God aus Hannover ersetzt werden. Amelia und Riccardo sind das tragische, von den eigenen Gefühlen überwältigte Liebespaar, das nicht zusammenkommen darf – sie die Frau seines Sekretärs und besten Freundes Renato. Die Eifersucht führt denn auch zur Katastrophe. Hovenbitzer allerdings nimmt das tragische Sujet durchaus mit Humor und würzt die opernhaften Überhöhungen mit feiner Ironie. So versäumt es Rafael Vázquez als Riccardo nicht, noch einen gekonnten Hüftschwung einzulegen, bevor er, von einer Pistolenkugel getroffen, in bester Hollywoodmanier zusammenbricht. Vázquez bringt die ironischen Anspielungen insgesamt sehr treffsicher über die Rampe und singt einen schönen, schlanken und strahlenden Tenor. Bariton Jaco Venter bildet als Renato sowohl stimmlich als auch in seiner physischen Bühnenpräsenz den passenden, kraftvoll bodenständigen und schließlich zornigen Gegenpart zum charmanten Luftikus Riccardo. Eine eher kleine, aber glänzende Partie singt Stefania Dovhan (im Wechsel mit Christine Graham) als „Page“, der in Hagen eher einem Conferencier aus Riccardos Traumwelt gleicht.
Während Chor und Solisten zur Premiere überzeugten, lieferten die Hagener Philharmoniker unter Leitung von GMD Florian Ludwig ein uneinheitliches Bild. Zwischen kraftvollen und höchst farbigen Momenten ließ das Orchester so manches Mal auch noch Schwächen und fehlenden Feinschliff erkennen.
Zitat: „Öde Rampengesänge gibt es an keiner Stelle“
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