Ehemalige unter sich – selbst zehn Jahre nach dem Abitur haben sich die alten Schulrituale erhalten. Das pubertäre Begrüßungsritual zweier Jungs; das Wer-sitzt-neben-Wem der Mädchen. Hinzugekommen sind die Polster an all den Problemzonen des Erwachsenseins. Fast sichtbar wachsen den sechs Schauspielern im Bochumer Theater unten die fleischfarbenen Ungetüme an Hüfte, Bauch und Po und machen die verstreichenden Jahrzehnte kenntlich.
Doch die Problemzonen, die Jan Neumanns neues Stück „Hochstapeln“ schildert, liegen woanders. Über ein halbes Jahrhundert verfolgt der Autor seine sechs Figuren und lässt sie bei Abiturtreffen regelmäßig zusammentreffen. Da stürzt sich das Sextett dann an einen kleinen Tisch auf der Miniaturdrehbühne und protzt mit Berufs- und Familienerfolgen, die letztlich nichts anderes sind als die Kleinformen gesellschaftlicher Hochstapelei über Status, Erfolg, Rolle oder Geschlecht. Denn zwischen die Treffen schaltet Jan Neumann, der auch sein eigener Regisseur ist, Rückblicke ins ernüchternde Alltagsleben der Protagonisten, die als Filmdreh durchgespielt werden.
Das große Drama im Alltäglichen
Mikrogalgen und Kamera sind immer dabei, wenn die verhuschte Maike (Barbara Hirt) sich aus Einsamkeit mit dem Loser Jörg zusammentut, vergewaltigt wird und sich schließlich einen Garten zulegt. Oder der Politiker (Dimitrij Schaad), dem niemand zuhört, der Abgeordneter wird, sich im Fernsehen als schwul outet und seine völlige politische Ratlosigkeit eingesteht. Oder der Unternehmersohn Arndt (Matthias Eberle), der immer mehr Geld verdient („Asien zieht“), den Selbstmord im Baggersee erwägt und dann doch nur noch versteint im Taxi sitzt. Die Filmebene fungiert als realer Kontrapunkt der Abitreffen, ihre Bilder bleiben aber als Projektionen medial vermittelt. Die dritte Ebene bildet schließlich die Bühne von Thomas Goerge, die mit Vorhängen, Minidrehbühne, Nebel- und Schaummaschine alles auffährt, was das Theater für sein hochstapelndes Lügengeschäft braucht.
Jan Neumann hat den Text mit den Schauspielern erarbeitet und vor allem die Abiturtreffen atmen den Charme der Improvisation. Andere Szenen entwickeln dagegen fast Sketchcharakter. So wenn der Pfarrer Michael (Daniel Stock) bei einem Beerdigungsvorgespräch ausrastet und seine Glaubenszweifel als Waffe einsetzt. Einige Szenen bleiben aber auch nur schlicht im Klischee stecken. Doch immer, wenn Neumann mit untrüglichem Blick das große Drama im Alltäglichen entdeckt, wird es spannend. Wie Friederike Becht als notorisch fröhliche Sabine in einer Filmsynchronisierungsszene die Krebserkrankung ihres Mannes einfach eisern weglächelt, lässt in der filmischen Dopplung und deren völligem Zusammenbruch eine verblüffende Intensität entstehen. Neumanns Stückentwicklungen bergen immer das Risiko des Scheiterns, doch sie besitzen genug dramatisches Polster, um am Ende auch schwache Momente zu überstehen.
„Hochstapeln“
R: Jan Neumann I Schauspielhaus Bochum
16./23.1., 19.30 Uhr
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