Die anatolischen Eltern Feridun Zaimoglus hatten nicht die Absicht, in Deutschland zu bleiben, es ging ihnen – ebenso wie der damaligen Bundesrepublik – nicht um Integration, sondern schlicht ums Arbeiten und Geld Verdienen. Und so erfuhr der Junge wie so viele seiner Generation keine Förderung und besuchte keinen Kindergarten. Als er in München eingeschult wurde, konnte er noch kein Deutsch, war eines der stummen schwarzgelockten Kinder, die im Abseits saßen. Doch anders als viele andere hatte er ein offenes Ohr für den fremdsprachigen Spielfilm, in den er sich hineingeraten wähnte. Er entwickelt ein Gespür für das Gehörte. Eine strenge, aber gerechte Lehrerin und das früh von den Eltern verhängte Verbot, sich mit anderen türkischen Kindern zu treffen, zwingen Feridun Zaimoglu und seine Schwester regelrecht in die deutsche Sprache hinein. Genau wie die deutsche Arbeiterschicht jener Zeit verfolgen auch die Zaimoglus das Ziel, dass es die Kinder einmal besser und leichter haben sollen als sie selbst. Und so wünschte die Mutter, dass der Sohn, der sich anfangs in der Schule schwer tat, aber dann dank eines ungeheuren Motivationsschubs und eiserner Disziplin als Bester seines Abiturjahrgangs abschloss, einmal Arzt werden solle – ein Wunsch, den der Sohn zunächst zu erfüllen versuchte.
Vom Abwäscher zum Abschaum
Doch schon zu Beginn seines Medizin-Studiums in Kiel beschlichen Feridun Zaimoglu Zweifel. Um die Eltern nicht zu enttäuschen, brach er das Studium nicht sofort ab, begann jedoch nebenbei zu malen und Kunst zu studieren. Erst nach ein paar Jahren zog er die Notbremse und schmiss das Studium. Mit Jobs als Abwäscher in einer Großküche, als Hilfsarbeiter und sogar in einem Schlachthof finanzierte er seine Malerei. Gelesen hat er zu der Zeit höchstens Krimis, „ernsthafte“ Literatur war ihm aus Schulzeiten vergällt. Bis eines Abends in einem Keller beim Rappen mit Freunden ein Wutmonolog aus ihm herausbrach, den er in den Tagen darauf unbedingt zu Papier bringen musste. Die Adresse des Rotbuch-Verlags fand er im Telefonbuch und ohne länger nachzudenken, schickte er sein Skript dorthin. Als dann tatsächlich die Zusage für eine Veröffentlichung kam, konnte es Zaimoglu selbst kaum glauben. „Kanak Sprak“ erschien 1995 und mit einem Schlag wurde der junge Mann als Sprachrohr zorniger junger Migranten gesehen. Hierbei kam ihm sein ausgeprägtes Gespür für sprachliche Eigenheiten zugute. Schließlich umfasst der Band 24 verschiedene fiktive Interviews, in denen er dem Slang der Straße huldigt. Durch dieses immens erfolgreiche Buch, das auch als Bühnenstück und Hörspiel Beachtung fand, sowie den darauf folgenden Roman „Abschaum“ wurde Zaimoglu zunächst als Underdog und Bad Boy der Literaturszene gehandelt. Doch es dauert nicht lange, bis er sich mit weiteren Romanen aus dieser Ecke herausschrieb. 2003 erhielt er beim Bachmann-Wettbewerb den Preis der Jury; viele renommierte Literaturpreise folgten, unter anderem die Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse. Der Studienabbrecher wurde Gastdozent für Literatur in Berlin und Tübingen.
Kernige Männer, echte Menschen
In seinem neuen Roman „Ruß“ wendet sich Zaimoglu nun dem Ruhrgebiet und den hier lebenden Menschen zu. Und auch wenn der Anteil türkischstämmiger Mitbürger gerade hier recht groß ist, spielt Einwanderung in diesem Roman keine Rolle: „Es geht um Rache, Vergeltung und eine große Liebesgeschichte. Der Roman spielt in deutschen Verhältnissen“, erläutert Zaimoglu, „eine Hauptfigur hat polnische Wurzeln – aber dort liegen auch die Wurzeln der Arbeiterschaft dieser Region.“ Arbeiterschaft ist das soziale Umfeld, das der Autor für die Geschichte gesucht hat: „Ich möchte mich mit meiner Literatur dort aufhalten, wo es gärt. Das nette Mädchen aus Berlin-Mitte, das abends auf seinem Balkon von einer leichten Melancholie befallen wird, interessiert mich nicht. Ich schreibe über kernige Männer, echte Menschen mit echten Geschichten.“ Diese Menschen hat er im Ruhrgebiet gefunden, zu dem er eine enge Beziehung empfindet, schließlich „wurde ich immer wieder ins Ruhrgebiet eingeladen. Ich habe mich oft dort aufgehalten und habe auch einige Zeit dort gewohnt. Den Plan über Menschen zu schreiben, die im Ruhrgebiet leben und arbeiten, hatte ich schon länger. Vieles Ursprüngliche ist hier abgewickelt worden und ich bedaure es zutiefst, dass die alten Menschen sterben und mit ihnen auch ihre Geschichten. Fabrik- und Zechengelände werden zu Kulturrouten umgewandelt, erhalten einen musealen Wert. Dadurch wird die Beschäftigung mit der ganz realen Arbeitswelt oberflächlich, der touristische Nippes lenkt ab und verklärt. Ich habe mir in den letzten Jahren viele mögliche Schauplätze angesehen, große und kleine Städte des Reviers. Irgendwann stand für mich fest, dass Duisburg die geeignete Kulisse des Buches abgeben würde. Hier ist noch nicht alles so extrem abgewickelt wie in anderen Städten. Duisburg minus Innenhafen, das war’s.“
Der Ton der Straße
Im Kern geht es Zaimoglu jedoch nicht um die Orte, die Szenerie, sondern um die Charaktere, die er an Rhein und Ruhr finden konnte: „Am Ruhrgebiet mag ich den Ton, den Menschenschlag, den Umgang miteinander, das dichte Städtenetz auf engem Raum. Als Arbeitersohn finde ich mich hier wieder, die Geschichte trifft bei mir auf fruchtbaren Boden. Ich habe mit Arbeiterinnen und Arbeitern in Rente gesprochen, die sich ihre Würde bewahrt haben. In den Gesprächen habe ich nicht mit dem Blick von außen nach einem Soziotop geforscht – mir ist die Arbeiterkultur mit ihren Eigenarten sehr vertraut.“
Hier kommt Zaimoglus Gabe, genau zu beobachten und sich in sprachliche Eigenarten intensiv einzuhören, wieder zum Tragen. Der Buchpremiere in Mülheim sieht er mit Vorfreude entgegen: „Ich freue mich sehr für die Präsentation des Romans wieder ins Ruhrgebiet zu kommen. Ich werde in zahlreichen Revierstädten lesen. Solche Einladungen sind für mich – und das sage ich nicht nur aus Höflichkeit – von großem Wert. Lesungen sind für mich keine Pflichtveranstaltungen, ich blühe auf, beobachte die Publikumsreaktionen. Dann wird sich erweisen, ob die Geschichte, die ich erdacht habe, auch als „richtig“ empfunden wird. Wenn mir die Leute dort den richtigen Ton bescheinigen, bin ich froh.“ Große Angst, den Ton eventuell nicht getroffen zu haben, muss er sich allerdings nicht machen: „Bei Kiepenheuer & Witsch arbeiten drei Menschen, die aus dem Revier stammen. Diese haben den Tonfall des Buches kritisch beleuchtet und als passend empfunden.“
Schriftstellerisch hat der Autor das Revier allerdings schon wieder hinter sich gelassen. Zur Zeit des Interviews befand er sich auf Recherche-Reise in Österreich, wo er sein nächstes Buch ansiedeln will. Details hierzu wollte er jedoch noch nicht verraten.
Feridun Zaimoglu: Ruß I Kiepenheuer & Witsch I 272 S., 18,99€ I erscheint am 18. August
Termine:
14.9. Mülheim Ringlokschuppen I 5.10. Bochum, Mayersche Buchhandlung I 6. 10. Dortmund, Mayersche Buchhandlung I 20.10. Essen, Folkwang-Museum I 25.10. Duisburg, Stadtbibliothek
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