So kann alte, klassische Literatur von neuer, von Slam-PoetInnen aufgegriffen werden: „Habe nun, ach! die Süddeutsche, Zeit, taz, Spiegel und Focus und leider auch Bild und Express durchaus studierend auf dem Lokus und sitze nun hier“, steigt das Slam-Duo „The Brave New World“ satirisch mit dem berühmten Faust-Zitat in ihren brillanten Beitrag ein. Das humanitäre Bildungsideal wird karikiert, dient als Folie für eine provokante Ideologiekritik, wie sie auf Slambühnen viel zu selten zu sehen ist.
Dem seufzenden „Ach“ folgt schnell die bittere Erkenntnis: „Ich armer Thor und bin so klug als wie zuvor.“ Die „Geschichte“, die das Duo erzählt, ist schlichtweg dokumentarisches Material, die Armutsberichte der BRD, die elende Weltlage: Es geht in ihrer politischen Revue um Arbeitsmarktdrill oder Flaschensammler, um Waffenexporte und Kriege – „frei nach unserem großen Bruder, den USA“, so die ätzende Imperialismuskritik: „Immer wenn die USA irgend einen Krieg nötig haben, passiert irgendwas mit Flugzeugen. Vielleicht sollte die Lufthansa auch einfach mal wieder über die Ukraine fliegen!“ Dem hört auch das zahlreiche Publikum im Hertener Glashaus gebannt zu. Jugendlich, engagiert und mutig. Die Slam-Szene hat ein soziales Gewissen: Es heißt „The Brave New World“. Kein trivialer Liebesrotz, kein infantiler Ulk, keine kleinbürgerliche Koketterie – hier wird unbequem und gnadenlos mit dem Kapitalismus abgerechnet. So sollte, ja müsste, Poetry Slam öfters sein.
Schöne neue Konsumwelt
Auf eigene Art beklagt auch Andreas Hebestreit eine schöne neue Konsumwelt à la Huxley. Der von Moderator Christoph Koitka als „Urgestein“ angekündigte Slammer präsentiert dem jungen Publikum „einen Kampf, den Sie alle kennen“ - „mit der Kassiererin bei Lidl.“ Was sich bei Chaplin noch in der Fabrik ereignete, geschieht hier im Supermarkt: Die Kassiererin scannt schneller, als das lyrische Ich den Kram in den Einkaufswagen packen kann – eine Entfremdung vom Konsum, aber Hebestreits „Moderne Zeiten“ amüsieren mit pointierten Vorschlägen für die „Entschleunigung an der Kasse“.
Kritische Klänge versucht dagegen Nadine Dubberke zu finden, die in ihrem Slam-Beitrag von Aufbruch, Migration und Resignation erzählt. Der Auftakt erweckt zunächst Hoffnung: „Du willst hier raus aus dem Land der nie lachenden Sonne.“ Doch die neuen Ufer werden als grau und trostlos bilanziert, wo nur Leistung und Lohn zählt.
„Grundmelancholie für gute Lyrik“: Coos Finalbeitrag
Schnell wird der Slam-Abend vom Steinwurf zum Meilenstein: Denn schon bei der ersten Runde überzeugt man im beschaulichen Herten beim „Steinwurf-Slam“ um das Moderatorenteam Cedrik Lukat und Christoph Koitka nicht nur mit dem Duo „The Brave New World“, sondern auch mit der Poetin Coo als Highlights des Abends. In ihrem Finaltext, der schließlich von der Jury die meisten Stimmen erhält, ringt sie mit den Worten, die das Gewicht des Wertes Liebe nicht ertragen. Gegen „Überreste der Konstruktion“ gilt es, den begrifflichen Parametern zu entsagen: Bloß keine Begriffe, Gebilde, Schlösser. Denn die abschließende Bedeutung steht der Liebe im Weg. Klingt fast nach Derrida, aber bleibt melancholische Old-school-Liebeslyrik. Muntere Slam-Landschaft: So können wiederum neue Gedanken in alten Formen der Literatur aufgegriffen werden.
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