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„Wenn nicht hier, wo sonst?“

01. März 2008

RUHR 2010 soll den Klimaschutz befeuern - Über Tage 03/08

trailer: Was ist zu kritisieren an den Vorbereitungen von RUHR 2010?
Leggewie: Höchstens, dass die Öffentlichkeit nicht genug davon mitbekommt, worin sie genau bestehen. Mehr Transparenz ist gut, wenn man das Revier wirklich mitnehmen will und sich nicht auf Funktionsträger und Verbandsvertreter verlassen möchte.

Manche sprechen schon vom Kollaps der offiziellen Kulturhauptstadt und von einer diesem Kollaps folgenden Bewegung von unten. Teilen Sie diese Sicht?
Nein, ich kann weder von dem einen noch von dem anderen etwas sehen. Bedenken Sie bitte, dass hier ein ganzer Ballungsraum antritt.

Welche Chancen eröffnen sich im Jahr 2010?
Es sind vor allem Chancen gegeben, das uneingelöste Versprechen einer "Metropole im Werden" mit Leben zu füllen, also den kommunalen Korporatismus der 53 Städte und Gemeinden, der alles gerne aus der Froschperspektive anschaut, was im Ruhrgebiet läuft, durch eine Vogelperspektive, eine wirklich regionale Vision zu ergänzen. Die Kulturhauptstadt Europas ist bitte keine Selbstbespiegelung, sie holt Europa und die Welt ins Ruhrgebiet und demonstriert dessen Metropolenqualität. Metropole ist nicht allein Größe, sondern Lebensqualität für alle.

Der Bundestagspräsident nennt die Ruhrstädte "Halbstarke". Wie bewerten Sie Kooperationsmöglichkeiten und Konkurrenzsituation?
Die Städte und Gemeinden an der Ruhr haben nur als metropolitanes Netzwerk eine Chance, die Konkurrenz (und wechselseitige Ignoranz), die ich hier und da erlebe, ist fatal.

Kohlenpott als Heimstätte für Ökologie, funktioniert das?
Wenn nicht hier, wo sonst? Hier leben fünf Millionen Menschen, deren Verhalten doch eher einen Unterschied macht, als wenn man in Freiburg noch mehr Strom spart. Das Bewusstsein für die Folgen des Klimawandels, übrigens auch dafür, wie die hiesige Industrie historisch und in der Gegenwart dafür mitverantwortlich ist, ist zugegeben noch entwicklungsfähig. Aber im Ruhrgebiet ist eine gewaltige Ingenieur- und Forschungskapazität versammelt, die nach dem Strukturwandel neue Aufgaben und Herausforderungen sucht.

Zynisch formuliert: In Bochum sollen also nur noch solarbetriebene Handys gefertigt werden. Kann Ökologie wirklich ein Mittel gegen Massenarbeitslosigkeit und Elend sein? Sie meinen – erst das Fressen, dann die Moral? Die Reihenfolge zeigt mit Verlaub, was noch alles zu tun ist: Die Arbeitsmarktkrise wird bestimmt nicht gelöst, wenn die Industrie- und Energiekonzerne die Chancen verpassen, die sich aus der ökologischen Modernisierung ergeben.

Welche Verbindungen gibt es zwischen Klimapolitik und Kultur?
Die Vorstellung, man könnte den Klimawandel aufhalten, indem man allein an den Stellschrauben der Politik, des Rechts und der Technik dreht, ist naiv. Wir stehen vor einer echten sozialen und kulturellen Revolution, und dafür muss man nicht nur etwas über carbon extraction und Passivenergiehäuser wissen, sondern auch über kulturell geprägte Deutungs- und Verhaltensmuster, deren Veränderung letztlich entscheidend ist.

Wie soll das aussehen? Sollen Theater, Musik und Bildende Kunst Reklame für Flaschenpfand und Energiesparleuchten machen?
Noch so ein kapitales Missverständnis von Kultur: Erstens macht sie nicht Werbung, zweitens ist sie mehr als Theater und Szenemusik. Vielleicht begreift man auch im Ruhrgebiet, dass die so genannte Kreativwirtschaft die Autoindustrie heute ökonomisch längst in den Schatten gestellt hat.

Kann die Industrie die Kultur retten?
Nein, umgekehrt auch nicht. Im Ruhrgebeit sind wir in den letzten Jahrzehnten von der Industriekultur zur „Kulturindustrie“ übergegangen, es fehlt noch der entscheidende dritte Schritt zur Vollendung des Dreisprungs: zur Klimakulturwirtschaft, die die kulturelle Kreativität der Region mit ihrem industriellen Wissensrepertoire verbindet und ihm neue Aufgaben gibt. Das wäre meines Erachtens auch der richtige Ansatz für die Kulturhauptstadt 2010: Das Ruhrgebiet als ökologische Modellregion. Wenn das genügend in den Köpfen und Herzen fundiert wird, könnte man Europa und die Welt wirklich überraschen und eine nachhaltige Perspektive für die Ruhrregion entwickeln.

Claus Leggewie (57), in Wanne-Eickel geboren, studierte in Köln und Paris Geschichte und Sozialwissenschaften. Seit 1989 ist er Professor für Politikwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität in Gießen, seit dem vergangenen Jahr auch Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen (KWI). Das KWI ist eine gemeinsame wissenschaftliche Einrichtung der Universitäten Dortmund, Bochum und Essen-Duisburg und somit ein lebendiges Beispiel für die von Leggewie geforderte Vogelperspektive.

INTERVIEW: LUTZ DEBUS

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