trailer: Herr Glaubrecht, das Artensterben hat ungeahnte Ausmaße angenommen - wir werden sehr viele Arten schlicht verlieren. Wie können wir dem noch begegnen?
Matthias Glaubrecht: Das Wichtigste ist, sich die Dimension und Dynamik dieses Artensterbens endlich vor Augen zu führen. Der Weltbiodiversitätsrat hat davor gewarnt, dass wir in den nächsten Jahren und Jahrzehnten bis zu einer Million Pflanzen- und Tierarten verlieren werden. Wir können dem nicht mit den üblichen Schutzmaßnahmen entgegentreten. Sehr lange haben wir uns auf den Schutz einiger weniger Arten konzentriert, die wir überwachen, und wir müssen erkennen, dass wir dringend Flächenschutz weltweit herstellen müssen. Das schließt unsere eigenen Flächen natürlich mit ein. Das konkrete 30/30-Ziel ist, 30 Prozent der Erdoberfläche bis zum Jahre 2030 unter Naturschutz zu stellen, bzw. diese Flächen auch wieder zu renaturieren, da, wo wir sie verloren haben. Ein ehrgeiziges Ziel, denn bisher sind formal nur 15 Prozent der Erdoberfläche tatsächlich geschützt – oft aber nur als sogenannte „paper parks“ [also nur auf dem Papier; d. Red.]. Diese Fläche gilt es jetzt zu verdoppeln. Es gibt sogar Kollegen, die davon ausgehen, um bis zu 80 Prozent der bisherigen Artenvielfalt der Erde zu erhalten, müssten wir bis Mitte des Jahrhunderts sogar 50 Prozent der Erde wieder in einen naturnahen Zustand überführen bzw. diesen erhalten. Dieses Vorhaben wird sehr schwierig, weil in derselben Zeit die Weltbevölkerung auch noch ansteigen wird.
„Geschützte Flächen müssen miteinander vernetzt sein“
Welche Strategien brauchen wir da?
In jedem Naturschutzgebiet lassen wir eine ganze Reihe von Nutzungen durch den Menschen zu. Nur hilft es nichts, wenn wir auf dem Papier in Deutschland 15 Prozent der Flächen unter Schutz stellen, dann aber zum Beispiel mit Harvestern in den Wald hineingehen, dadurch den Boden verdichten und Bodenorganismen abtöten. Über die landwirtschaftliche Nutzung in Naturschutzgebieten gefährden wir, neben vielen Wiesenbrütern, auch Rehkitze und viele andere Tiere. Unsere Wirtschaftsweise sollte also naturnaher werden. Vor allen Dingen müssen die Flächen, die wir schützen, miteinander vernetzt sein. Wir müssen sicherstellen, dass es grüne Korridore und einen Austausch zwischen diesen Flächen gibt.
Dass Tiere schneller von A nach B kommen ...
Genau, und dass sie sich überhaupt austauschen können. Momentan betreiben wir eine Art Insel-Biogeografie. Diese kleinen zerrissenen Flecken sind für sich alle kaum selbstständig lebensfähig. In diesen Flächen geht auch die genetische Vielfalt mehr und mehr zurück, d.h., die Tiere verarmen dort genetisch. Da braucht es also Korridore, Wanderwege und Austauschmöglichkeiten. Wir werden natürlich nicht zur unberührten Naturwildnis zurückkehren können: In Deutschland gibt es sie gar nicht mehr, in Europa kaum noch und weltweit ist sie auch auf Fragmente reduziert. Ohnehin sind es relativ wenige Staaten, die noch große Wildnisflächen haben: Brasilien gehört dazu, Indonesien und Australien. Was in diesen Ländern passiert, ist für die Artenvielfalt also extrem wichtig. Als Konsumenten von vielen Produkten können und sollten wir da auch Einfluss nehmen. Wir können fordern, dass Nahrungsmittel, die wir aus diesen Ländern beziehen, anders produziert werden. Damit haben wir es auch in der Hand zu verhindern, dass dort Regenwald abgeholzt wird oder andere Dinge passieren, die insgesamt global für die Natur, aber dann letztendlich auch für den Menschen, sehr schädlich sind.
„Wir haben nicht noch einmal 40 Jahre Zeit“
Warum passiert angesichts der Erkenntnisse so wenig?
Man stellt sich auch die Frage, wie es beim Klimawandel so weit kommen konnte. In den achtziger Jahren war den Wissenschaftlern bereits klar, was passiert, auch wenn Rechenmodelle und Vorhersagen noch nicht so präzise waren wie heute. Seitdem wissen wir, wodurch der Klimawandel ausgelöst wird und dass der Mensch dafür verantwortlich ist. Es hat dafür keine Zunahme des Wissens gebraucht, sondern es musste in der Breite der Bevölkerung ankommen, dass wir unseren Lebensstil, unsere Energieformen und Produktionsweisen ändern müssen. Für genau diesen Bewusstseinswandel – dass wir an dem Ast sägen, auf dem wir selber sitzen, wenn wir die Biodiversität vernichten – haben wir im Fall des Artensterbens nicht noch einmal 40 Jahre Zeit. Das muss dieses Mal sehr viel schneller gehen. Wir müssen erkennen, dass so wenig wie der Strom aus der Steckdose kommt, auch die Nahrungsmittel einfach so vorhanden sind. Diese Tiere, ihre Lebensgemeinschaften und Ökosysteme sorgen für all das, wovon wir leben, nämlich gesunde Böden, mit denen wir unsere Nahrungsmittel produzieren können. Wenn wir diese Zusammenhänge verstehen, dann werden wir auch begreifen, dass wir von den biologischen Grundlagen der Erde abhängig sind. Den Leuten klarzumachen, dass das Überleben der Menschheit von der Artenvielfalt auf der Erde abhängig ist, wird die große Herausforderung sein. Wir werden in den nächsten Jahren und Jahrzehnten einen Trend sehen, der eine deutlichere Urbanisierung von 70 bis 80 Prozent herstellen wird.
„Wir haben den Kontakt zur Natur praktisch verloren“
Menschen wollen in Städten leben.
Alle leben dann in Städten und verlieren dadurch noch mehr den Kontakt zur Natur. Sie wissen weder wie ein Schnitzel entsteht noch wie die biologischen Zusammenhänge sind. Solange wir Politiker haben, die sich immer noch damit brüsten, von Natur und Biologie nichts zu verstehen und wir uns diese falschen Repräsentanten leisten, so lange haben wir noch nicht begriffen, worum es wirklich geht. Es geht nämlich nicht um das Aussterben der Menschheit, sondern darum, wie diese demnächst vielleicht 11 Milliarden Menschen alle zu ernähren sind – und das bei steigenden Konsumansprüchen. Dafür müssen wir Lösungen finden.
Ich habe einen Nachbarn ertappt, wie er eine Insektenfalle aufgestellt hat, weil er sich gestört sah. Muss das Wissen um Biodiversität jeden erreichen, um auch ein Umdenken im Kleinen zu bewirken?
Natürlich und da ist noch ein weiter Weg zu gehen. Denn wir haben den Kontakt zur Natur praktisch verloren. Ich habe im Bekannten- und Freundeskreis tatsächlich auch Leute, die mich fragen: „Sag' mal, wofür brauchen wir denn eigentlich diese Insekten?“ Solange wir diese utilitaristische Herangehensweise haben, so lange verstehen wir natürlich nicht, dass wir Teil dieser Natur sind.
Letztendlich ist es unsere abendländische Tradition, die uns seit 2000 Jahren in der Ignoranz der Erkenntnisse, die wir in den Naturwissenschaften gewonnen haben, auf den falschen Weg geleitet hat. Es hilft uns wenig, über die Natur nachzudenken, ohne sie zu verstehen.
„Man kann auch an seinem eigenen Erfolg zu Grunde gehen“
... ohne sich als Teil der Natur zu begreifen.
Genau. Viele halten sich erklärtermaßen selbst für Halbgötter – halb aus der Natur herausgenommen. Wie fatal diese Idee ist, sehen wenn wir am Beispiel der Coronapandemie, durch die wir schlagartig auf den Boden der Tatsachen zurückgeführt wurden. Pandemien und Infektionskrankheiten springen von Tieren auf den Menschen über. Durch unsere Nutztiere haben wir auch schon immer alles dafür getan. Die von Rindern übergesprungenen Masern im alten Athen sind so ein gutes Beispiel, wie wir heute wissen. Wenn wir diese Zusammenhänge ignorieren und immer nur am Ende versuchen, herumzupfuschen und zu kurieren, doch die Ursachen nicht wirklich bekämpfen, so lange werden wir natürlich Schwierigkeiten haben zu überleben. Wenn wir verhindern wollen, dass wir in Chaos, Krieg, Krankheiten und Katastrophen enden, dann wird es Zeit, dass wir uns diese gesamten Natur-Zusammenhänge vor Augen führen. Das soll nicht negieren, dass wir als Mensch natürlich eine Erfolgsgeschichte der Evolution geschrieben haben, aber wie so häufig bei erfolgreichen Tieren – man kann auch an seinem eigenen Erfolg zu Grunde gehen. Die gute Nachricht ist: Wir haben es selber in der Hand. Wir haben die Fähigkeit, die Biosphäre und die Geosphäre gleichermaßen zu manipulieren – im Guten wie im Bösen.
„Natur sollte Rechtssubjekt werden“
Der Terra-X-Moderator Dirk Steffens fordert, das Grundgesetzes für den Naturschutz zu ändern. Was halten Sie davon?
Es zielt viel zu kurz, weil es nur Deutschland in den Blick nimmt. Was den Faktor Artenvielfalt angeht, spielt Deutschland nicht die entscheidende Rolle. Da muss der Blick in die Tropen und die Länder gehen, die artenvielfältiger sind wie etwa afrikanische Länder, Indonesien oder Brasilien. Deutschland sollte da eigentlich auch noch mutiger werden als bloß einen Artikel des Grundgesetzes zu ändern. Grundsätzlich müssten Tiere stärkere Rechte erhalten, gar als Rechtssubjekt gelten. Das Recht im Deutschen ist zunächst einmal normativ, doch es bildet auch das Bewusstsein einer Gesellschaft ab. In 100 Jahren fragt man sich hoffentlich, wieso wir so lange dafür gebraucht haben, bis wir Tieren dieselben Rechte eingeräumt haben wie Kapitalgesellschaften: Sie können per Rechtsanwalt vertreten werden und gelten tatsächlich als Rechtssubjekt. Natur insgesamt sollte Rechtssubjekt werden und es braucht Verfahren, die dafür sorgen, dass jemand die Verantwortung übernehmen muss, wenn diese Natur geschädigt wird. Salzeinleitungen in einen großen mitteleuropäischen Fluss wie jetzt aktuell in der Oder, wären dann ein Kapitalverbrechen wie massenhafter Mord und würden entsprechend verfolgt. Eine unerlaubte und völlig irrwitzige Idee, bei wenig Wasserführung und hohen Temperaturen auch noch Salze in den Fluss einzuleiten. Unser Problem ist die tagtägliche Ermordung der Natur. Der Krieg, den wir alle gegen die Natur führen, indem wir sie sinnlos und völlig überzogen ausplündern. Um Lebensqualität zu gewinnen und den Generationen nach uns auch ein vernünftiges Leben zu ermöglichen, werden wir unsere Bedürfnisse und unsere völlig überzogenen Konsumgewohnheiten einschränken müssen. Ich halte eine komplette Grundgesetzänderung und eine Rechtsänderung daher für absolut notwendig und nicht, sich dabei nur auf einen Paragraphen zu beschränken.
UNARTIG - Aktiv im Thema
de-ipbes.de/de/Globales-IPBES-Assessment-zu-Biodiversitat-und-Okosystemleistungen-1934.html | Die deutsche IPBES-Koordinierungsstelle stellt den UN-Bericht zu Biodiversität und Ökosystemleistungen in unterschiedlichen Ausfertigungen zur Verfügung.
bmuv.de/themen/naturschutz-artenvielfalt/artenschutz/was-bedeutet-artenschutz | Das Bundesumweltministerium informiert über die rechtlichen Rahmen von Artenschutzmaßnahmen.
nabu.de/umwelt-und-ressourcen/oekologisch-leben/balkon-und-garten/ | Der Naturschutzbund Deutschland e.V. informiert über Naturschutz im (eigenen) Garten.
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