Am Anfang war der Flieger. Eroberte den Himmel. Spartanisch sei die Welt. Doch ausufernd in Gedanken. Dann rammte das Fluggerät einen Wolkenkratzer und veränderte einen ganzen Planeten. Im kleinen Theater im Dortmunder Depot zeigt der Regisseur und Schauspieler Jens Dornheim „Das Produkt“ von Mark Ravenhill, in dem das zentrale Thema internationaler Politik in Hollywood vermarktet wird. Das nette Mädchen von nebenan wird vom Jihad erleuchtet, dieses boshafte Szenario macht aus der scheinbaren Bedrohung durch wenige eine lebbare Vision für jedermann – wenn die schrecklichen Ursachen bösartige Wirkungen erzeugen. Alles in Breitwand-Cinemascope versteht sich. Und in attraktiver Besetzung.
Auch Dornheim setzt in seiner Inszenierung auf die Macht der laufenden Bilder und auf Sparta. Zwei Schauspieler, zwei Stühle, ein Tisch. Mehr braucht es nicht, um den alltäglich stattfindenden Terrorismus in der Welt darzustellen. Hier trifft sich der Produzent James mit der schicken Schauspielerin Olivia, ein Star, den er natürlich erst einmal vom Plot seines Drehbuches überzeugen muss, doch die krude Geschichte um Liebe und Verrat und Osama Bin Laden scheint auf den ersten Blick nicht das zu sein, was Olivia in Begeisterung versetzt. Also muss sich James ins Zeug legen und den halben Film selbst vorspielen, Szenenanalysen, Kamerafahrten, Interaktionen.
Dominik Hertrich hat sich auf diesen 70 Minuten-Monstermonolog eingelassen, er beschwört, er tobt, er spielt wechselweise Terroristen, die Filmprotagonistin Amy, er mimt Kameraleute und den Roten Teppich, er zerreißt sich die Kleider. Olivia (Alexandra Schlösser) scheint sich dennoch eher zu langweilen, nestelt am Täschchen, schaut in die Ferne, checkt das Handy, die Rolle der Amy scheint nicht so prickelnd zu sein. Text hat Schlösser keinen, weshalb diese fiktive Figur meist weggelassen wird. Doch auch 70 Minuten Mimik sind nicht einfach zu überstehen, aber höchst interessant zu verfolgen. Immer wieder bricht Dornheim die Szenerie mit Filmmusik, wenn Amy, deren Freund beim Anschlag auf das World Trade Center starb, erst ihren Mohammed am Flughafen findet, ihn dann mit nach Hause nimmt, verführt und ihre Wohnung als Terrorzelle wiederfindet. Dass sie selbst einmal aus Liebe und Überzeugung in Lara Croft-Manier in Guantanamo eindringen wird, kann sie da noch nicht wissen, ist aber der finale Höhepunkt des fiktiven Films.
Eine abwechslungsreiche Choreografie und Hertrichs Wechsel zwischen den sehr unterschiedlichen Temperamenten von Filmregisseur und Mohammed lassen keine Langeweile aufkommen. Ravenhills aberwitzige Satire auf die gewinnbringende Umwandlung von politischen Ereignissen in Waren der Unterhaltungsindustrie scheint leider ein zeitloses Stück zu werden. James sieht den Kassenschlager vor seinem geistigen Auge, den Zuschauer beschleichen andere Gedanken. Was soll das bloß für ein Film werden? „Der Zuschauer soll irgendwann bemerken, dass er diesen schrecklichen Film, von dem da geredet wird, wirklich sehen will“, wünschte sich der Autor, Regisseur Dornheim erfüllt diesen Wunsch tatsächlich. Ein Regiekracher: Als Abspann lässt glassbooth, die in diesem Jahr ihr zehnjähriges Bestehen in der nicht gerade auf Rosen gebetteten Freien Szene feiern, den Film auf der großen Leinwand flimmern. Ein Trash besonderer Qualität mit Hommagen an John Frankenheimers „Schwarzer Sonntag“ (USA, 1977), der als nahezu prophetische Vorwegnahme von 9/11 gilt, aber auch mit bösen Querverweisen auf „James Bond“ und andere Schurkenstreifen. Den „Kinotrailer“ hat das Team von BS-Films unglaublicherweise in nur zwei Tagen abgedreht, es wurde dennoch ein echter Run durch das Ruhrgebiet.
„Das Produkt“ I Fr 6.9. 20 Uhr I Neue Galerie Gladbeck
Mi 11.9. 20 Uhr I Depot Dortmund (mit Gebärdendolmetscherin) I0231 982 23 36
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Aufm Arbeitsamt wird gesabbert
„Willems wilde Welt“ von theater glassbooth – Theater Ruhr 07/19
Im Dreieck wird geschwindelt
„Der Weibsteufel“ in Dortmund und Essen – Theater Ruhr 12/18
„Wir mussten uns mit jeder Produktion neu erfinden“
Jens Dornheim und „Der Weibsteufel“ in Dortmund – Premiere 10/18
Krieg in der Auster
„Zeit der Kannibalen“ im Dortmunder Depot – Theater Ruhr 06/16
Auf dem TV-Spottkarussell
Liebesalarm: Freies Theater glassbooth auf Ruhrgebietstournee – Theater Ruhr 10/14
„Wir befinden uns schon noch in einem narrativen Theaterstück“
„Container Love“, ein experimentelles Schauspiel der Theatergruppe glassbooth – Premiere 08/14
„Wir sind eine sehr kleine Nische im Underground“
Jens Dornheim, Chef der Theatertruppe „glassbooth“, über seine Inszenierung von Mark Ravenhills „Das Produkt“ – Premiere 06/13
Ein Kranz für die Revolution
Das Ensemble „Glassbooth“ zeigt mit „Satansbraten“ einen ziemlich unbekannten Fassbinder - Theater Ruhr 04/12
Stimme gegen das Patriarchat
„Tabak“ am Essener Grillo-Theater – Prolog 11/24
Krieg und Identität
„Kim“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 11/24
Liebe ist immer für alle da
„Same Love“ am Theater Gütersloh – Prolog 11/24
„Ich glaube, Menschen sind alle Schwindelnde“
Regisseurin Shari Asha Crosson über „Schwindel“ am Theater Dortmund – Premiere 11/24
Mentale Grenzen überwinden
„Questions“ am Münsteraner Theater im Pumpenhaus – Prolog 10/24
Bollwerk für die Fantasie
Weihnachtstheater zwischen Rhein und Wupper – Prolog 10/24
Der Held im Schwarm
„Swimmy“ am Theater Oberhausen – Prolog 10/24
Torero und Testosteron
„Carmen“ am Aalto-Theater in Essen – Tanz an der Ruhr 10/24
„Was dieser Mozart gemacht hat, will ich auch machen“
Komponist Manfred Trojahn wird 75 Jahre alt – Interview 10/24
„Hamlet ist eigentlich ein Hoffnungsschimmer“
Regisseurin Selen Kara über „Hamlet/Ophelia“ am Essener Grillo Theater – Premiere 10/24
Das gab es noch nie
Urbanatix im Dezember wieder in Essen – Bühne 10/24
Die Zwänge der Familie
„Antigone“ in Duisburg – Prolog 09/24
Das schöne Wesen aller Dinge
Festival Spielarten 2024 in NRW – Prolog 09/24
Jenseits von Stereotypen
„We Love 2 Raqs“ in Dortmund – Tanz an der Ruhr 09/24
Wüste des Vergessens
„Utopia“ am Theater Oberhausen – Prolog 09/24
„Das Publikum braucht keine Wanderschuhe“
Intendant Ulrich Greb inszeniert „Ein Sommernachtstraum“ am Schlosstheater Moers – Premiere 09/24
Künstlerisches (Ver-)Lernen
Das Favoriten Festival 2024 in Dortmund – Prolog 08/24