Personenkommentar: Prof. Dr. Christiane Eichenberg (42) ist Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin und Universitätsprofessorin. Derzeit lehrt sie an der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien.
trailer: Ab wann spricht man von einer Angststörung?
Prof. Dr. Christiane Eichenberg: Das ist ziemlich klar definiert. Es gibt eine internationale Klassifikation von psychischen Störungen, die selbstverständlich auch in Deutschland angewendet wird. In diesem Katalog finden sie in einem Kapitel die Angststörungen und deren Einordnung. Von Panikattacken über spezifische Phobien, sprich, Angst vor bestimmten Objekten oder Situationen bis hin zur Sozialphobie, bei der man Angst vor Menschen oder sozialen Situationen hat. In diesem Katalog ist festgelegt, ab wann welche Angststörung zu diagnostizieren ist. Wesentlich ist dabei die Intensität der Angst, sowie das Vorliegen einer bestimmten Anzahl von Symptomen. Panikattacken müssen in einem definierten Zeitraum mehrmals vorkommen, etc. Denn jemand, der nur einmal in einer Stresssituation eine Panikattacke bekommen hat, leidet noch nicht unter einer Angststörung.
Trifft eine Angsterkrankung eher Männer oder eher Frauen?
Personenkommentar: Prof. Dr. Christiane Eichenberg (42) ist Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin und Universitätsprofessorin. Derzeit lehrt sie an der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien.
Es trifft eher Frauen. Es gibt schon geschlechtsspezifische Unterschiede bei den psychischen Störungen. Wir wissen, dass Frauen eher Störungen haben, die sich gegen sie selbst richten, selbstverletzendes Verhalten, depressive Erkrankungen oder auch Angst.Die richtet sich ja auch in Form von massiven Einschränkungen gegen den Patienten selbst.Bei Männern ist es eher so, dass sie typischerweise die Aggression nach außen kehren, anstatt gegen sich. Sie haben dann eher antisoziale Störungen oder auch Suchterkrankungen. Mit psychischer Not oder Krisen, innerpsychischen Konflikten, wird also schon tendenziell geschlechtsspezifisch anders umgegangen. Aber selbstverständlich gibt es auch Männer mit Angststörungen oder Depressionen.
In welchem Alter treten Angststörungen häufig zum ersten Mal auf?
Die typischen psychischen Störungen oder auch Angsterkrankungen treten das erste Mal in der Adoleszenzphase auf. Also so im Alter von zwanzig Jahren. Mit zunehmendem Alter wird das Auftreten dann tendenziell weniger. Die Adoleszenzphase ist eine schwierige Lebensphase mit vielen Veränderungen und Aufgaben. Die jungen Erwachsenen müssen sich vom Elternhaus ablösen, ziehen aus, es geht um Schulabschlüsse und Berufsfindung. Diese Entwicklungsphase ist sehr verunsichernd, schon ein gesunder junger Mensch muss dann viel leisten. Wenn es dann vormals in der Kindheit oder Jugend viele Belastungen gab, wird diese Phase dann eventuell nicht mehr so ohne Probleme bewältigt. Dann können psychische Probleme manifest werden.
Gibt es den typischen Angstpatienten? Erkrankt ein bestimmter Typ Mensch oder jemand mit einer spezifischen Biografie häufiger an Angststörungen?
Das kann man so nicht sagen. Bis heute wissen wir nicht genau, warum jemand eine bestimmte psychische Krankheit bekommt. Uns interessieren die Symptome weniger als die dahinter liegenden Ursachen, gerade wenn wir psychoanalytisch denken. Da fragen wir nach dem Hintergrund und der Ursache der Erkrankung. Jemand kann beispielsweise ein Trauma haben und auch eine Angststörung entwickeln. Oder wenn eine Person neurotisch ist, also typischerweise sehr streng und rigide erzogen wurde, ein sehr starkes Gewissen und Über-Ich hat und viele vitale Impulse aufgrund der strengen Erziehung unterdrücken musste. Dieser Patient kann auch eine Angststörung bekommen. Die Hintergründe sind also alle sehr unterschiedlich, die Biografien sich nicht ähnlich. Man kann also nicht sagen, dass es eine typische Angstpersönlichkeit gibt.
Gibt es in unserer heutigen Gesellschaft Faktoren, die das Entstehen einer Angsterkrankung begünstigen?
Das denke ich schon. Wir stellen ja fest, dass die Häufigkeit von psychischen Störungen zunimmt. Jetzt kann man sich natürlich fragen, ob vielleicht überdiagnostiziert wird, oder handelt es sich dabei vielleicht um Modediagnosen? Es gibt immer wieder Zeiten in denen bestimmte psychische Störungen häufiger diagnostiziert werden. Das hat man beispielsweise mit der Borderlinestörung gehabt. Aber generell und unabhängig von diesen Faktoren sehen wir schon, dass psychische Störungen zunehmen. Das hängt selbstverständlich mit den heutigen Lebensanforderungen zusammen. Die Zersplitterung von Familie, die vielen Singlehaushalte, hohe erwartete Mobilität, hohe Arbeitsanforderungen und damit auch großer Druck, das sind alles Entwicklungen, diediepsychische Gesundheit nicht gerade begünstigen.
Angststörungen werden häufig in Gemeinsamkeit mit anderen Krankheiten diagnostiziert. Welche Krankheiten sind das?
Sie sprechen von sogenannten Komorbiditäten. Da wären Depressionen ein gutes Beispiel, denn viele Menschen mit einer Depression erleben auch Angst. Man kann sich dann aber auch fragen was zuerst da war, die Henne oder das Ei. Denn jemand der unter einer schweren Angststörung leidet, mit all den verbundenen Einschränkungen und dem hohen Leidensdruck, kann aus der Angst heraus eine Depression entwickeln. Das gibt es auch bei Suchterkrankungen. Wir wissen, dass es Patienten gibt, die versuchen einer Angsterkrankung beizukommen, indem sie sich selbst medikamentieren, beispielsweise durch Alkohol. Dann kommt zu der Angst die Sucht, und die schlechte Situation wird noch verschärft.
Wie gravierend ist eine Angsterkrankung für die Betroffenen und welche Folgen kann sie haben?
Angsterkrankungen sind sehr schwerwiegende Erkrankungen, weil sie als sehr sehr belastend erlebt werden und sich qualitativ sehr von der Angst unterscheiden, die ein Nichterkrankter kennt. Eine Angsterkrankung, eine Panikattacke oder auch die generalisierte Angststörung haben mit normal empfundener Angst nichts mehr zu tun. Die Betroffenen erleben sehr große Einschränkungen im Alltag, im privaten wie auch im Berufsleben. Die entstehenden Gefühle sind oft schwer auszuhalten, gehen mit Todesangst einher, oder mit der Angst verrückt zu werden. Betroffene fühlen sich nicht verstanden, einsam und alleine. Denn die Angst wird vom Umfeld in Qualität und Intensität oft nicht verstanden. Da ist aber das Internet ein großes Glück, denn der häufige Gedanke, dass man die einzige Person auf der Welt mit diesem Problem ist, kann durch den Austausch mit anderen Betroffenen im Netz widerlegt werden. Das eigene Erleben wird durch die Erkenntnis, dass in Deutschland oder weltweit viele Millionen Menschen das Gleiche durchmachen, entstigmatisiert.
Wie können Angststörungen behandelt werden?
Angststörungen sind gut behandelbar. Das steht oder fällt aber auch damit, wie schnell die Behandlung eingeleitet wird. Wie schnell erkennt der Betroffene also selber, dass es sich um eine Angststörung handelt? Wie schnell erkennt gegebenenfalls der Hausarzt, dass eine Angsterkrankung vorliegt? Wie schnell kommt der Betroffene in die Versorgung, in professionelle Hände? Denn problematisch wird es dann, wenn Betroffene monate- oder jahrelang unbehandelt bleiben und sich die Krankheit chronifiziert. Bis dahin hat sich das Vermeidungsverhalten etabliert, was den Angstkreislauf verschärft. Eine schnelle Behandlung ist also wichtig. Bei ganz klar umschriebenen Angststörungen hat sich die Verhaltenstherapie bewährt. Hier werden durch den Therapeuten Konfrontations- und Expositionsbehandlungen durchgeführt. Dazu werden genau die Situationen aufgesucht, die Angst machen. Dann wird so lange in eben dieser Situation geblieben, bis die Angst aufhört. Kommen Komorbiditäten hinzu, sollte man eventuell über psychodynamische, das heißt tiefenpsychologische oder psychoanalytische Therapieansätze nachdenken. Eine Behandlung durch Medikamente kann ebenfalls ratsam sein.
Können behandelte Patienten irgendwann wieder mit einem normalen Maß an Angst leben?
Ja, auf jeden Fall. Die Angststörungen sind gut behandelbar. Vielleicht wird es immer eine Sollbruchstelle oder Schwachstelle sein. Wenn die Betroffenen in Krisen oder Stresssituationen geraten, könnten sie mit stärkerer Angst reagieren. Aber viele, die gute Therapien gemacht haben, haben danach dann auch ein gutes Rüstzeug, einen sogenannten Notfallkoffer, um die aufkeimende Angst wieder gut unter Kontrolle zu bekommen. Damit können sie wieder ihren Alltag bewältigen.
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