Kurz vor Vorstellungsbeginn regnet es noch in Strömen auf Burg Wilhelmstein in Würselen, der Open-Air-Spielstätte des Aachener DasDa-Theaters. Und als auch noch Intendant und Regisseur Tom Hirtz auf die Bühne kommt, befürchtet man schon, umsonst zur Premiere von „Hair“ angereist zu sein. Aber dann hört man buchstäblich, wie Hirtz ein Stein vom Herzen fällt, dass sein Ensemble endlich wieder vor Publikum spielen darf – und dass es dem Theater gelungen ist seine 40 Angestellten heil und ohne Entlassungen durch die Pandemie zu bringen.
Die Erleichterung seiner bewegenden Worte schlug beim Publikum in Dankbarkeit und einen tosenden Applaus um, wie man ihn sonst nur nach einer gelungenen Premiere hört.
Dann gab er die Bühne frei für sein elfköpfiges Ensemble, das auf einer leicht schrägen, mit dem Friedenssymbol der Hippie-Bewegung der Endsechziger Jahre verzierten Drehbühne (Setdesign: Frank Rommerskirchen) jene Zeit wieder auferstehen ließ, in der man sich von der Eltern-Generation lossagte, gegen Atomkraft und den Vietnamkrieg protestierte, der freien Liebe frönte („Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“) und Drogen-Konsum als Bewusstseins-Erweiterung propagierte.
Genau diese Stimmungslage griff das, 1967 off Broadway uraufgeführte und 1968 an den Broadway gewechselte „Hippie-Flower-Power-Rock-Musical“ von Galt MacDermot (Musik), Gerome Ragni und James Rado (Buch und Liedtexte) auf, provozierte das Publikum aber auch mit – für die damalige Zeit ungewöhnlich freizügigen – Sexszenen.
Damit kann man heute keinen mehr hinter dem Ofen hervorlocken, dachte sich wohl Regisseur Tom Hirtz – und beschränkte sich auf ein dezentes Liebesspiel-Karussell auf dem Peace-Zeichen. Seine Inszenierung stellt die immer noch mitreißende Musik in den Mittelpunkt – kongenial unterstützt durch die hinreißenden Arrangements von Christoph Eisenburger und seiner dreiköpfigen Band (Tom Schreyer, Martin Löhrer, Lukas Dahle): „Aquarius/Let the Sunshine In“ und „Good Morning Starshine“ sind einfach nicht totzukriegen. Während Hirtz mit diesen Ohrwürmern der Hippie-Bewegung ein Denkmal setzt, befreit er andererseits „Hair“ von jenem Staub, der sich in den letzten Jahrzehnten auf das Stück und viele seiner allzu nostalgisch-eindimensionalen Inszenierungen gelegt hatte. Unaufdringlich spannt er nach dem Motto „Die Hippies sind weg – Fridays for Future ist da“ den Bogen zur heutigen Protestbewegung, kehrt aber auch die bisweilen unsoziale Ichbezogenheit der gegenwärtigen millenium-plus Generation nicht unter einen alles gnädig zudeckenden Musical-Teppich. Immer schwingt bei den einzelnen Geschichten und Schicksalen auch ein Hauch aktueller Zeitgeist mit.
Auch Eveline Gorters kluge Choreographie versagt sich der Versuchung von der Handlung losgelöster Tanzeinlagen, bringt eher ein fließendes Bewegungs-System in die chaotische Struktur der Hippie-Szene. Deren Authentizität wird auch durch die farbenfrohen Kostüme von Nadine Dupont betont, die einen sinnfälligen Kontrast zu der Grau in Grau daherkommenden Eltern-Generation abgeben. Aber natürlich steht und fällt das Musical mit seinem präzis geführten, spielfreudigen Ensemble, das so homogen agiert, dass es sich schon aus Respekt vor jeder einzelnen Leistung verbietet, die eine oder den anderen hervorzuheben. Tobias Steffen, Marvin Moers, Franka Engelhard, Louisa Heiser, Manuel Lopez, Madeline Hartig, Tine Scheibe, Mehdi Salim, Nicole Sydow, Alina Arenz, Fabian Vogt – sie alle lassen uns 100 Minuten die Pandemie vergessen und in selige Musical-Träume abtauchen. Und jetzt noch einmal tosender Applaus!
Hair | 26.-30.7. je 20 Uhr | Burg Wilhelmstein bei Aachen | 0241 16 16 88
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