Für ein paar Minuten klingt es wie ein Marx-Lesekreis, was Marlena Keil mit Bauhelm und knallrotem Suit aus Konterfeis des bärtigen Philosophen vorträgt. Doch seiner „Kritik der politischen Ökonomie“ an den Produktionsverhältnissen und dem ideologischen Überbau wird nur ein Prolog gewidmet. Was folgt, ist eine glatte Musicalnummer, die dem Geld in all seinen Facetten huldigt: als Macht, als Luxus und als Identität. Bis Lukas Beeler als Flattermann aus Euro-Symbolen die Premiere unterbricht. Ein Streik inmitten der Aufführung. Er träumt davon, diese Inszenierung bombastischer aufzuziehen – mit Broadway-Stars, mit prominenten Film-Gesichtern und vor allem: mit viel Geld.
„Das Kapital: Das Musical“ feierte bereits 2010 in Shanghai seine Uraufführung. Nick Rongjun Yu schrieb diese Burleske über das kapitalistische China, die satirisch wie humorvoll einen Kommerzialisierungsprozess der Bühne durchexerziert, bis von den Brettern der Welt nur noch ein kümmerlicher Appendix der Kulturindustrie bleibt. Regisseur Kieran Joel überträgt „Das Kapital: Das Musical“ (in der deutschen Fassung von Anna Stecher) nun auf Dortmunder Verhältnisse. Und das geschieht nicht ohne Selbstironie: Geringe Auslastungszahlen des Theaters werden thematisiert, ein aufgebrachtes Telefonat mit dem Kulturdezernent folgt und die Intendantin Kunstmann schwadroniert darüber, dass sie das Publikum über die kapitalistische Ideologie aufklären will.
Doch die Zahlen durch die Investoren lassen auch sie träumen: von einem jungen Publikum oder Hollywood-Stars wie Hugh Jackman als Hauptdarsteller. Marx-Exegeten oder Adorniten rümpfen vielleicht die Nase darüber, wie hier die Bühne zu einem monopolitischen Theaterimperium transformiert wird. Aber Kieran Joel und Dramaturgin Marie Senf zeigen, wie Kapitalismuskritik klug, unterhaltsam und humorvoll verpackt werden kann. Das liegt auch an der großartigen Darbietung der Darsteller:innen, allen voran Lukas Beeler, der als neoliberaler Rebell im Kampf gegen die öffentlich geförderte Kultur Investoren um sich schart. Die fordern wiederum profitorientierte Specials wie z.B. ein „10-Stücke-am-Stück-Festival“. Das Ergebnis ist unter anderem ein dargebotener Klassiker-Cocktail aus Goethes „Faust“, Schillers „Die Räuber“ oder Büchners „Woyzeck“ – eines der Highlights dieser gelungenen Inszenierung.
Das Kapital: Das Musical | 29.9., 14., 29.10., 19.11., 16.12. | Schauspiel Dortmund | 0231 502 72 22
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