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Kannibalismus auf der Musical-Bühne

01. April 2008

Von unartigen Kindern und rachsüchtigen Barbieren - Musical in NRW 04/08

Berlin war eine Reise wert: Nach dem Wochenendausflug an eine der innovativsten Musical-Bühnen des Landes, die "Neuköllner Oper", erwarten uns in heimischen Gefilden nicht weniger sehenswerte Musical-Inszenierungen. Zwei Theater abseits der großen Metropolen, die sich seit Jahren um die Kunstform Musical verdient gemacht haben, verdienen wieder einmal die ungeteilte Aufmerksamkeit des Genre-Liebhabers: die städtischen Bühnen in Krefeld/Mönchengladbach und Hagen.

Das Theater Hagen bringt dabei das Kunststück fertig, zeitgleich mit der Hollywood-Verfilmung seine Version von Stephen Sondheims "Sweeney Todd" zu starten. Zudem noch in einer einmaligen Kooperation mit dem Cinestar-Multiplex: Mit der Eintrittskarte der jeweils anderen Spielstätte bekam man im Kino oder Theater Ermäßigung. Diejenigen, die das Experiment mitmachen, werden sich wundern, wie nahe beide Fassungen an der Original- Broadway-Aufführung von 1979 sind. Natürlich kann Hagen nicht mit einem charismatischen Star wie Johnny Depp aufwarten. Aber Frank Dolphin Wong , der sich als mordender Barbier nicht nur an Richter Turpin rächt, der ihm einst seine Frau und die noch ungeborene Tochter weggenommen hatte, ist natürlich stimmlich dem Hollywood-Mimen überlegen – und lehrt uns auch ganz ohne Großaufnahmen von aufgeschlitzten Kehlen das Gruseln. Peer Palmowskis versteht es zudem mit seinem dem Original nachempfundenen Bühnenbild, bei dem die Umbauten in die Handlung integriert sind, die Atmosphäre der Londoner Hinterhöfe um 1900 stimmungsvoll zu treffen. Und Stephen Sondheims, vom Dirigent Steffen Müller-Gabriel kongenial umgesetzte, durchkomponierte Partitur gehört nun mal zu den Sternstunden des amerikanischen Musik-Theaters. Genauso blutrünstig geht es zur Zeit in Mönchengladbach zu, wo man auch nicht gerade mit seinen Sprösslingen (unter 12) einen Theater- Abend planen sollte.

Denn Julian Crouch und Phelim McDermotts Erwachsenen-Version des Struwwelpeters, "Shockheaded Peter", nehmen Dr. Heinrich Hoffmanns Kinderbuchvorlage von 1844 wortwörtlich bei der Schere. Regisseur Reinhardt Friese erzählt uns mit genauso kindlich- boshafter Freude wie der Autor diesen pädagogischen Albtraum, der in den 60er Jahren aus den Kinderzimmern der Antiautoritäts-Generation verbannt wurde.

Um die makabren Botschaften herum komponierte der Engländer Martyn Jacques und seine „The Tiger Lillies“-Punk-Band eine von rauhen Tom Waits-Rhythmen, Anklängen an Kurt Weill und Zigeunerweisen durchzogene Musik mit anarchischen Texten. Und so verbrennt Paulinchen durch einen genialen Flammenkleid-Einfall der Kostümbildnerin genauso makaber, wie die "bösen Buben" mit ihren Baseballschlägern den "Struwwelpeter" in die beklemmende Nähe des klaustrophobischen "Clockwork Orange" rücken. Immer begleitet von den zynischen Sprüchen eines schwarzgewandeten Herren (großartig wie das ganze Ensemble: Tobias Wessler), der all die expressionistischen Stummfilm- Bösen von Nosferatu über Dr. Caligari bis hin zu Dr. Mabuse in sich zu vereinen scheint.

Infos unter: Theater Hagen, Infos: www.theater.hagen.de
Theater Krefeld/Mönchengladbach, Tickets und Infos: 02151 44000

Rolf-Ruediger Hamacher

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