Wer hätte damals gedacht, dass die „West Side Story“ auch 50 Jahre nach ihrer Premiere nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat. Das Migranten-Problem brennt immer noch vielen Ländern unter den Nägeln. Trotzdem ist es immer ein Wagnis, dieses vor allem durch die geniale Choreographie von Jerome Robbins „vorbelastete“ Werk auch ohne die finanziellen und künstlerischen Voraussetzungen zu produzieren, die der Broadway nun mal bietet. Wie schon oft – zuletzt bei der grandiosen „Sweeney Todd“-Inszenierung – wagte sich das Theater Hagen an das schier Unmögliche.
Natürlich wirken die Tanzszenen manchmal so, als habe sie Doris Marlis mit angezogener Handbremse choreographiert, um die TänzerInnen nicht zu überfordern. Andererseits gelingt es Regisseur Thilo Borowzak, der altbekannten Story neue Reize abzugewinnen. So lässt er das im Original Tony und Maria vorbehaltene „Somewhere“ von einem zwischen die rivalisierenden Jugendbanden tretenden Mädchen in Weiß (mit schöner Stimme: Jennifer Bird) singen: ein „Engel der Versöhnung“. Mit diesem Kunstgriff erspart er uns den pathetischen Schluss des Stücks, das hier mit dem Tod Tonys in Marias Armen endet und nicht mit der Annäherung der ethnischen Gruppierungen. Während die „Jugendlichen“ sich die Seele aus dem Leib singen, tanzen und spielen, stapfen die „Erwachsenen“ etwas lustlos durch ihre Rollen. Bis auf „Doc“ Werner Hahne, der nicht nur den Streithähnen im Stück die Leviten liest, sondern nach dem enthusiastischen Applaus auch den Hagener Stadtvätern. Die planen nämlich, das Theater zu Tode zu kürzen. So als hätte sich noch nicht herumgesprochen, dass „Kultur“ keine freiwillige, sondern eine Pflichtaufgabe der Kommunen ist. Sein Wort in Rates Ohren.
„Bildung mobil“, die transportiert das Landestheater Detmold quer durch NRW. Zurzeit ist es mit dem Musical „Sugar“ auf Reisen. Auch „Sugar“ hat eine Vorlage, an der es sich messen lassen muss: Billy Wilders Filmkomödie „Manche mögen‘s heiß“ mit Marilyn Monroe. Hier kommt Leonard Bernsteins Definition wieder einmal zum Tragen: „Ein gutes Musical ist ein Stück, das man auch ohne Musik spielen könnte“. Tatsächlich ist „Sugar“ eine großartige Travestie-Boulevardkomödie um zwei Musiker, die sich, verfolgt von Chicagoer Gangstern, in Frauenkleidern in eine Damenkapelle einschmuggeln. Der Schlussgag: „Nobody is perfect“ wurde mittlerweile zum geflügelten Wort. Der Film zum Kult. Diesen Status wird „Sugar“ sicher nicht erreichen, hat die Musik des Broadway-Veteranen Jules Styne doch nicht mehr die Ohrwurm-Qualitäten seiner Meisterwerke „Funny Girl“ und „Gentlemen prefer Blond“. Apropos blond. Zum Glück hat man die Titelfigur gegen das Monroe-Image mit dem Rotschopf Katja Uhlig besetzt, die mit ihrer ausdrucksstarken Musicalstimme dann das Beste aus den jazzigen Songs herausholt. Wenn das allzu forsche Dirigat von Felix Lemke es denn zulässt. Da wäre etwas klangliche Zurückhaltung mehr gewesen. Klaus Seifferts Inszenierung besitzt dagegen ein perfektes Timing, wobei ihm besonders das Komiker-Talent von Jan Felski (Jerry/Daphne) entgegenkommt, der nicht nur seinen Kontrabass, sondern seinen auch etwas steifen Partner Markus Hottgenroth (Joe/Josephine) mitschleppen muss. Treppauf, treppab durch ein genial konzipiertes Art Deco-Bühnenbild (Petra Mollérus), das sich im Handumdrehen von einer Suite in einen Nachtzug verwandeln lässt. Auch wenn die Tanzschritte nicht immer synchron waren – das slapstickartige „Alt-Herren-Ballett“ hatte was.
www.theater.hagen.de I www.landestheater-detmold.de
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