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Emotional und doch abstrakt: Europa bedeutet auch Freiheit für den Einzelnen
Foto: Øle Schmidt

„Der Geschichte fehlen neue Geschichten“

30. April 2014

Thomas Wessel über den Geist von Europa – Thema 05/14 Europa

trailer: Herr Wessel, denk ich an Europa in der Nacht, dann… Bitte ergänzen Sie.
Thomas Wessel:
Nein, nachts schlafe ich. Oje, wie sollen wir jetzt den Einstieg finden? Ging mir genauso, als wir damals mit dem Thema Kulturhauptstadt anfingen; das Erste, was alle feststellten, war diese große Sprachlosigkeit. Eigentlich gab es nur zwei Reaktionen, wenn man wen auf Europa ansprach: Das Eine waren romantische Bilder, da wurde Europa zu einer Blumenwiese mit Schmetterlingen, die wie bunte Fähnchen flatterten. Das Andere war schweres Europa-Pathos, da herrschte schnell so ein Predigt-Ton, den ich mir nirgends gern bieten lasse, auch in der Kirche nicht. Irgendwie wird zu Europa immer eine falsche Tonlage angestimmt.

Welche Tonlage hätten Sie denn gern?
Mit dem Platz des Europäischen Versprechens versuchen wir, überhaupt mal einen anderen Ton zu finden. Die Steinplatten, auf denen die Namen der Europäer stehen, sind sichtbar, aber die Versprechen, die sie Europa gegeben haben, sind still.

Warum erfährt der Betrachter nicht, was die Menschen Europa versprochen haben?

Thomas Wessel
Foto: Privat
Thomas Wessel: Studium in Berlin. Arbeitete als Freier Journalist, Barmann und LKW-Fahrer in Kreuzberg, später an der Evang. Akademie Berlin und beim Antirassismusprogramm der Kirchen. Seit 1998 Pfarrer an der Christuskirche Bochum. Verheiratet mit Ayla Wessel.

Er erfährt es, wenn er es sich selber vorstellt. Wenn er den Anderen, dessen Namen er liest, in seine Vorstellung aufnimmt. Das ist Demokratie, nicht etwa, wie es manche in Bochum gefordert haben, dass staatliche Gremien darüber befinden sollten, was wir uns zu versprechen hätten. Der EU wird so oft Regulierungswut vorgeworfen und dass sie selbst Duschköpfe normt. Ich hab da kein Problem mit: Duschköpfe zu vereinheitlichen ist etwas anderes als Gedanken zu normen.

Mit welchen Problemen ist die Europäische Einigung konfrontiert?
Ich denke, das Problem von Europa ist seine Erfahrungslosigkeit. Eine Erzählung, die oft bemüht wird, geht über die offenen Grenzen – eine Nicht-Grenze ist aber keine Erfahrung, die sich machen lässt, das Ganze ist wie eine Erinnerung von Großeltern. Und wer von außerhalb nach Europa will, für den ist es zu oft ein Lügenmärchen. Die andere europäische Erzählung ist die, dass wir seit 1945 untereinander keinen Krieg mehr hatten. Auch das ist beides, es ist groß und eine große Nicht-Erfahrung. Als die Europäische Verfassung zuerst in Frankreich, dann in den Niederlanden zur Abstimmung stand und mehrheitlich abgelehnt wurde, dämmerte langsam, dass der Geschichte Europas neue Geschichten fehlen.

Eine Antwort wäre die Rückkehr zum Nationalismus?
Wenn die Wiederholung von Geschichte als Antwort zählt, dann ja. 100 Jahre her, dass der Erste Weltkrieg begann und Menschen überall in Europa – fortschrittliche und reaktionäre, Linke wie Rechte, Junge und Alte, die Künstler, die Kirchen, die Kleingärtner – sich in den Kriegstaumel stürzten. Der Krieg sei eine „Reinigung“, der Frieden ein „Komfort“, das schrieb damals Thomas Mann. Der Frieden tritt offenbar als großer Langeweiler auf, das Problem dürfte sich heute ähnlich stellen. Vielleicht brechen die meisten Kriege nur aus, um die Langweile zu bekämpfen.

Ein Austritt aus der EU ist keine Lösung?
Austreten wohin? Europa ist ja nichts, was irgendwie draußen wäre. Wir leben nicht nur geographisch mittendrin, Europa steckt jedem in den Genen, bei mir etwa waren es Hugenotten. Die Behauptung, wir könnten uns von Europa lösen, ist kindisch.

Wenn wir alle Menschen mit ausländischen Wurzeln ausweisen würden, wäre Bochum wohl ziemlich leer.
Auch das. Es bedeutet, dass alle in Europa Ausländer sind, weil alle hinzu gekommen sind. Den Europäer, der immer schon gewohnt hätte, wo er jetzt wohnt, gibt es nicht. Und die hier in Deutschland wohnen, wir mit unserer spezifischen Geschichte, können Europa dafür nur dankbar sein: Wir sind die Dazugekommenen par excellence, die Eingeladenen. Es war ein unfassbarer Vertrauensvorschuss, mit denen, die Europa umgepflügt hatten, ein neues Europa zu gründen.

Hat Europa eine Zukunft?
Ich glaube schon, dass sich so etwas wie ein europäisches Gefühl oder ein europäisches Empfinden entwickeln kann. Man hat auch die Nationen „vorgestellte Gemeinschaften“ genannt – jetzt fragen Sie mal einen, der irgendwo in Europa „national fühlt“, was das denn sei; über kurz oder lang wird er Ihnen was von der „schönen Landschaft“ singen. Ich verstehe nicht, warum Berge schöner sein sollen als Strände und warum Bäume was Besseres als Seen. Als wir auf die Straße gegangen sind und die Leute eingeladen haben, Europa ihr persönliches Versprechen zu geben, konnte man Europa in den Augen der anderen lesen, so viele leuchtende Augen, wie es da plötzlich gab. Klingt das pathetisch?

INTERVIEW: Lutz Debus

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