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Cartoon: Michael Holtschulte

Hurra, es ist wieder Wahlkampf

30. März 2017

Politisches Interesse ist da, das Vertrauen in die Parteipolitik hat gelitten – THEMA 04/17 ZUKUNFT JETZT

Diesen ganzen Wahl-Zirkus könnte man ganz gut mit dem Eurovision Song Contest verwechseln. Es geht um Abstimmungsergebnisse und Applaus, um Beliebtheit und Attraktivität, und um Absprachen im Hinterzimmer. Ja hurra, es ist wieder Wahlkampf! Die Parteien buhlen um unsere Gunst. Okay, die Outfits sind etwas weniger schrill als beim ESC, die Stimmen dafür umso schriller. Manche Lieder kommen einem unangenehm altbekannt vor, andere wiederholen ihren Refrain zu häufig. Aber darüber Witze zu reißen, über die politischen Prozeduren nur zu lachen, fällt zunehmend schwer. Die Schreckgespenster wie Trump, Erdogan oder Putin braucht es gar nicht, um uns zu erinnern, wie fragil unsere Sicherheiten sind. Dazu reicht ein Blick auf hiesige Armutsstatistiken, auf Skandale in Wirtschaft und Finanzwelt, auf die Stimmenfängerei und die sogenannte Medienschelte in Deutschland. Insel der Glückseligkeit geht irgendwie anders.

Was also tun? Immer mehr Jugendliche haben politisches Interesse und sind bereit, dafür aktiv zu werden. Was schwindet, ist der Zuspruch für Parteien. Vertrauen wird eher Menschenrechts- und Umweltschutzgruppen sowie der Polizei und Gerichten entgegengebracht, so die 17. Shell Jugendstudie. Klar, direkter politischer Aktivismus ist sexier als Realpolitik. Und das liegt nicht nur daran, dass Sea Shepherd coolere T-Shirts verkauft als Martin Schulz je tragen wird. Vielmehr geht es ums Feedback. Wenn man dann schon mal eine Meinung hat, will man sich damit auch persönlich einbringen, an Gestaltungsprozessen beteiligt sein, Antworten bekommen, Zugehörigkeit entwickeln. Im Vergleich mit den plötzlichen, schnellen Schlangenbissen des Aktivismus wirkt selbst Lokalpolitik unbeweglich wie ein Dinosaurier. Das Vertrauen in Regierungsorganisationen nimmt in ganz Europa ab, hat die PR-Agentur Edelman ermittelt. Laut ihrer Trust-Studie sinkt in Deutschland sogar das Vertrauen in Nichtregierungsorganisationen drastisch. Dafür steigt bei jüngeren Menschen das Vertrauen in Suchmaschinen, owned media wie Unternehmenswebseiten, und rein digitale Medien. Google for president?

Internetaffine Menschen versucht die Bundeszentrale für politische Bildung „digital abzuholen“ mit ihrem „Wahl-O-Mat“: Ein paar Fragen beantworten und angezeigt kriegen, welche Parteien zum eigenen Standpunkt passen. Netter Versuch, aber gegen das unsichere Grundgefühl, das derzeit so oft geäußert wird, hilft das nicht: Globalisierung, die Übermacht internationaler Konzerne, die Komplexität internationaler Zusammenhänge‒Kontrollverlust allerorten. Wir wollen glauben können, dass Politik handlungsfähig ist, dass Volksvertreter das Allgemeinwohl über Privatinteressen stellen, dass ihre Versprechungen bindend sind. Wir wünschen uns Klarheit und Zusammenhalt. Aber bei all diesen Verflechtungen und gegenseitigen Abhängigkeiten kommt nationales Denken an klare Grenzen. Freund-Feind-Rhethorik und Schwarz-Weiß-Malerei bieten keine Zukunft.

Mehr Transparenz und politische Gerechtigkeit wollen nicht nur die kritische Presse, Whistleblower und Organisationen wie Abgeordnetenwatch. Als behördliche Einrichtung der EU untersuchte das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung sowohl den VW-Skandal als auch den Vorwurf, die rechtsextreme Politikerin Marine Le Pen habe EU-Gelder zweckentfremdet. Solche Behörden zu effektiver Arbeit zu bringen, ist Aufgabe der Politik. Dazu müssen Wählerinnen und Wähler sie in die Pflicht nehmen. Gesellschaftliche Veränderung braucht Organisation. Es gibt Ideen und Lösungsansätze, zum Beispiel in der Commons-Bewegung. Ihre Fürsprecher wagen die Hoffnung, dass das selbstorganisierte Produzieren eine gesellschaftliche Alternative darstellt und ein neues Denken ermöglicht. Auf der Suche nach der großen Erzählung, die Perspektiven auf eine andere Form des Zusammenlebens eröffnet, sollten wir vielleicht im Kleinen anfangen.

Nein, Deutschland ist keine Insel der Glückseligkeit und kein bisschen perfekt. Aber immerhin können wir den Mund aufmachen. Wir können uns berufen auf Grundrechte, individuelle Freiheit und politische Moral. Eine Garantie dafür, dass dies so bleibt, gibt es nicht. Die Angst weglachen, sich auf Verweigerung ausruhen ist nicht länger. Auf den European Song Contest kann man verzichten, auf die eigene politische Stimme nicht. Nicht wählen zu wollen ist ein Luxus, den wir uns nicht mehr leisten können. Weder in der Wahlkabine noch bei der Frage, wie wir zusammen leben wollen.


Lesen Sie weitere Artikel
zum Thema auch unter: choices.de/thema und engels-kultur.de/thema

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abgeordnetenwatch.de | Internetplattform für die öffentliche Befragung von PolitikerInnen und für Recherchen zu Nebentätigkeiten der Abgeordneten, Parteispenden und Lobbyismus
transparency.de | Transparency International e.V. ist eine internationale NGO in Form eines gemeinnützigen Vereins zur weltweiten Bekämpfung von Korruption
pulseofeurope.eu | Europaweite, in Frankfurt a. M. gegründete Bürgerinitiative, die immer sonntags um 14 Uhr in über 50 Städten für die europäische Idee, Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit demonstriert

Thema im Mai: ARBEITSGLÜCK
Arbeiten um zu leben oder leben um zu arbeiten?
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Melanie Redlberger

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