Es ist Frühling, die Bäume sind bunt. Nicht etwa, weil sie blühen. Das haben sie wegen des vorgezogenen Sommers im April schon hinter sich. Nein, es sind Wahlen. Und Bäume und Straßenlaternen fungieren als Hilfsmittel zur politischen Meinungsbildung. Bunte Plakate lächeln auf uns herab. Diesmal sind es besonders viele Plakate. Neben den Kommunalwahlen finden am 25. Mai auch noch die Wahlen zum Europäischen Parlament statt. Die beiden Urnengänge mit den traditionell geringsten Wahlbeteiligungen sollen gemeinsam von dieser Dopplung profitieren. Den zu wählenden Stadtverordneten kennt man vielleicht vom Infostand vor dem Supermarkt. Falls man zu der aussterbenden Spezies der Leser einer Lokalzeitung gehört, weiß man vielleicht sogar, was der Stadtverordnete macht und sagt. Europa aber erscheint, von Duisburg-Hamborn, Bottrop-Boy oder Dortmund-Mengede aus betrachtet, sehr weit entfernt.
Dabei ist diese Wahl brisant. Das Bundesverfassungsgericht kassierte im Februar die 3-Prozent-Hürde, die bislang für Europawahlen galt. Eine Partei benötigt also nur etwa 0,5 Prozent der abgegebenen Stimmen, um einen Abgeordneten nach Straßburg zu schicken. Ziemlich sicher galt aber schon vor dem Richterspruch der Einzug der Alternative für Deutschland (AfD) ins Europaparlament. Bei der Bundestagswahl im vergangenen Jahr erreichten die Parteineulinge auf Anhieb 4,7 Prozent, nur 0,1 Punkte weniger als die FDP. Mit einer recht radikalen Kritik an der Europapolitik der Bundesregierung warb die AfD um Wählerinnen und Wähler. Tatsächlich sorgten die während der Euro-Krise eilig zusammengezimmerten Rettungsschirme für die südeuropäischen Krisenländer bei vielen für Unmut. Die Sorge, als braver Steuerzahler marode Volkswirtschaften des Mittelmeerraumes finanzieren zu müssen, wurde von Medien und vielen etablierten Politikern befeuert, lange bevor die AfD ihren ersten Wahlerfolg feierte. Der Gedankengang ist einfach. Weil die Länder Südeuropas nicht wirtschaften können, das Finanzsystem dort ineffektiv und korrupt ist, leben diese Volkswirtschaften von Krediten, die sie nicht abbezahlen können. Dass diese Kredite auch von deutschen Banken ohne hinreichende Prüfung an jene Länder vergeben wurden und die Rettungsschirme in erster Linie die Zahlungsfähigkeiten der deutschen Banken garantieren, verschweigen die Stammtischstrategen gern. Auch wird gern übersehen, dass wir mit unseren enormen Exportüberschüssen Mitverursacher und Hauptnutznießer der Euro-Krise sind.
Genau diese Kritik ist von manchem Linken zu hören, die in gleichnamiger Partei für Stimmen werben. Allerdings sind einige Linke wegen ihrer Kritik an den Europakritikern selbst noch lange keine überzeugten Europäer. Die EU ist nach deren Sichtweise ein unmenschliches, imperialistisches, militaristisches Staatenbündnis. Tatsächlich kann man bei näherem Hinsehen manche dieser europakritischen Argumente nachvollziehen. Im und am Mittelmeer schottet sich Europa mit immer mehr Aufwand gegen die Flut der Armutseinwanderer aus Afrika und dem Nahen Osten ab. Die Errungenschaften von Europa wie Wohlstand und Freiheit werden zwar gern in Sonntagsreden gefeiert, sie sind aber den gebürtigen Europäern vorbehalten.
Bleibt die Frage, ob man die EU als ein Imperium bezeichnen kann. Die Osterweiterung der EU hat in der Tat eine ernste Krise provoziert. Die ehemaligen Staaten des Ostblocks und auch die Baltischen Staaten konnten noch vergleichsweise problemlos ihren Kurs Richtung Europäische Union und Wohlstand steuern. Spätestens bei der Ukraine war Schluss mit lustig. Tatsächlich gebärden sich weder Russland noch die EU oder die USA als Verhandlungspartner, die um Interessensausgleich bemüht sind. Denkstrukturen aus dem Kalten Krieg werden reanimiert. Wenn die LINKE also nicht nur NATO und EU, sondern auch Russland Imperialismus und Militarismus vorhalten würde, läge sie so verkehrt nicht.
Unberührt davon, ob die EU im Moment die richtige Tagespolitik betreibt, bleibt aber die Frage, ob es Sinn macht, in Europa noch immer in nationalstaatlichen Kategorien zu denken und zu handeln. Der Nationalstaat galt im 18. und 19. Jahrhundert als anstrebenswertes Ziel. Ob er allerdings im 21. Jahrhundert noch die sinnvolle Organisationsform für uns Menschen darstellt, ist fraglich. Es gibt eine Fülle von politischen Entscheidungen, die am besten in der Region getroffen werden. Und es gibt einige politische Entscheidungen, die am besten kontinental oder gar global gelten sollten. Welches Sträßlein wohin gebaut werden soll, welcher Kindergarten und welche Schule gebraucht wird, dies entscheiden sinnvollerweise die Menschen vor Ort. Über ein Steuersystem, über Bankenaufsicht, über Außen- und Sicherheitspolitik sollten möglichst multinationale Gremien entscheiden. Vielleicht wäre es ausreichend, wir hätten eine europäische Regierung und regionale Regierungen. Den Posten der Bundeskanzlerin und der Ministerpräsidentin könnte man dann wegrationalisieren und käme tatsächlich mit zwei Wahlen aus. Und die könnte man der Einfachheit halber tatsächlich immer auf das gleiche Datum legen.
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