Eigentlich sollte es keinen wundern, dass die Popmusik mittlerweile in die Konzerthallen gewandert ist. Der Tonträgermarkt hat sich zwar auf niedrigem Niveau konsolidiert, doch bei den Konzerten ist der Verdrängungswettbewerb größer geworden. Auch die öffentlich geförderten Kulturinstitutionen stehen unter Druck. Sie müssen sich zwar nicht über Erfolg legitimieren, aber ohne Publikum geht es trotzdem nicht. Seit einigen Jahren schon haben Konzerthäuser deshalb ein bestimmtes Popsegment für sich entdeckt: den Bildungsbürger-Pop.
Das ist an sich natürlich keine wirkliche Neuigkeit. Egal ob Zappa, Dylan oder Cohen – eine Popmusik mit bestimmten Techniken und Signifikanten hat Gebildete schon immer stärker angesprochen. Teilweise führte das zu schrecklicher Musik wie etwa den Shakespeare-Vertonungen von Rufus Wainwright. Neu ist dagegen, dass nicht mehr nur die Zeichenwelten eines eher traditionellen bildungsbürgerlichen Kanons bedient werden, sondern ein Kanon, der sich innerhalb des Systems Popmusik selbst herausgebildet hat.
Ein Beispiel ist das Düsseldorfer New Fall Festival. Es spiegelt die Logik wider, dass man Popmusik mit dem Transfer an Orte, wo klassische Musik gespielt wird, aufwertet. Aber dieses Jahr hat man sich davon zum Glück verabschiedet. Am 10. Oktober tritt Erlend Øye im Robert-Schumann-Saal auf. Øye ist der Prototyp des Nerds: schlacksig, große Brille und mit einem unersättlichen Interesse an Popmusik. Er spart sich seine Schlauheit lieber für das Schreiben von Popsongs auf, anstatt sie für Wissenschaft oder Startups zu verschwenden. Das Sympathische ist, dass Øye mit dem Bildungsbürgerwissen auch den Bildungsbürgergestus ablegt hat. Kein Wunder also, dass es ihn für seine neue Platte in ein Genre verschlagen hat, das außerhalb der afro-karibischen Bevölkerung Großbritanniens eigentlich kaum über Rückhalt verfügt: dem Lovers Rock, einer Reggae-Spielart, die in den späten 70ern aufkam und bei der der klassische Offbeat durch Soul-Instrumentierung und Sängerinnen ergänzt wurde, die anstatt einer Rückkehr in ein mystisches Afrika von relativ gewöhnlichen Liebesgeschichten sangen. Den Roots-Reggae-Puristen war Lovers Rock verdächtig, in die Zeichenwelt von Erlend Øye passt er sich aber perfekt ein: eine kurze Episode der Pop-Geschichte wird Bestandteil eines elaborierten Stilkosmos – anders ist Shakespeare auch nicht mit dem Sonett umgegangen.
Wie Øye arbeiten viele Künstler beim New Fall Festival: Sie schaffen eine eigene Bezugswelt aus den verschiedenen Medien von Popkultur. Die schottischen Mogwai haben vor einigen Jahren einen Film über Zinedine Zidane vertont, bei dem Musik und Bilder so perfekt aufeinander passten, dass das eine Medium ohne das andere gar nicht mehr zu denken gewesen wäre. Auch bei Sebastian Tellier wird die digital archivierte Psychedelia zu detaillierten Pop-Miniaturen. Der Platz im Popkanon wird gerade vergeben – beim New Fall kann man dabei zusehen.
New Fall Festival | 9.10.-12.10. | Düsseldorf | www.new-fall-festival.de
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