Jedes Bild eine Geschichte. An einer Fotografie der Japanerin Lieko Shiga geht man nicht einfach vorbei. Unwillkürlich fragt man sich, was mit der Frau geschehen sein mag, die in einem Restaurant sitzt und von Tausenden von Insekten umschwärmt wird. Rätselhaft, verstörend und faszinierend sind diese Bilder, die Titel wie „Die Tränen des Wals“ tragen. Zu sehen ist ein Wassersturz in der Dunkelheit und das Bild verweist tatsächlich auf den Walfang. Die 31-jährige Lieko Shiga ist in einem Ort aufgewachsen, der vom Walfang lebte. Die Galerie Priska Pasquer in Köln zeigt Arbeiten ihrer Serie „Canary“, mit denen sie sich in erste Reihe der zeitgenössischen Fotografie katapultierte.
Bevor sie fotografiert, befragt Lieko Shiga die Menschen über den Ort, an dem ihre Bilder entstehen. Sie fragt nach den positiven oder negativen Empfindungen, die die Menschen mit ihm verbinden. Diese Informationen gehen ein in die Komposition des Bildes, das Teil einer Inszenierung ist. Lieko Shiga zieht sich in ihrer künstlerischen Fotografie nicht auf einen dokumentarischen Standpunkt zurück, sie will sich nicht von der Wirklichkeit überwältigen lassen. Obwohl ihr genau das passierte, als ihr Haus und ihr Studio in diesem Jahr vom Tsunami vollkommen zerstört wurden. Lieko Shiga will diese Wirklichkeit beeinflussen und in sie eingreifen. Als sie vor dem Haus eines Brautpaares einen Baum sieht, der ihr zu traurig anmutet, behängt sie ihn komplett mit weißen Lichtern. Lilien, die ihr zornig anmuten, versieht sie mit Dornen. Das Chaos im Kopf des Großvaters, der dement ist, visualisiert sie in der Arbeit „Remember that“ mit spiegelnden Lichtpunkten.
Das Träumerische in seiner latenten Bedrohlichkeit ist in diesen Arbeiten enthalten, mitunter aber auch das Glück. So zeigt sie ein träumendes Liebespaar, das sich leicht im Kuss berührt, während die Frau schon davon zu fliegen scheint.
Der Tod ist ein Thema, dem Lieko Shiga unerschrocken begegnet, so begleitet sie Bärenjäger bei ihrer Arbeit und fängt Bilder von verstörender Direktheit ein. Die Kunst der Lieko Shiga zeichnet sich durch eine Kühnheit und eine inhaltliche Konsistenz aus, die einen in jedem Bild packt. Stets gibt es Hintergründe und Beziehungen, die erzählt werden wollen, Fremdes und Eigenes geht in die Komposition des Bildes ein. Als sie ein Haus sieht, das abgerissen werden soll, rebelliert sie gegen das Unvermeidliche und streicht das Haus in Pink an. Lieko Shiga, das ist die vollkommene Abkehr vom Formalismus. Die Japanerin repräsentiert eine Unerschrockenheit in ihren Sujets und Inhalten, die eine Vorstellung von einer Fotografie gibt, der auch im Zeitalter der digitalen Medien noch eine große Zukunft gehört, weil sie Erzählen und Dokumentieren so überraschend zu verbinden weiß, dass sie als Erkenntnisinstrument unentbehrlich bleiben wird.
Ausstellung bis 30. Juli, geöffnet Di-Fr 11-18 Uhr, Sa 11-16 Uhr, Galerie Priska Pasquer, Albertus Str. 9-11
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