Wenn zu Hause die Türen geknallt werden, stehen die Zeichen auf Sturm. In einer Boulevard-Komödie können sie nicht oft genug geknallt werden, ob Zimmer- oder Schranktüren. Denn das garantiert Tempo und so manche Überraschung. Zumal der Zuschauer mehr weiß, als die ahnungslosen Protagonisten. Weil der Amerikaner Ken Ludwig diesen klassischen Topoi des Boulevard-Theaters perfekt umgesetzt hat, ist seine 1986 in London uraufgeführte Komödie „Lend Me a Tenor“ mittlerweile Kult, wurde in 16 Sprachen übersetzt und in 25 Ländern aufgeführt. Für das Shakespeare-Festival in Utah entwickelten Brad Carroll (Musik) und Peter Sham (Buch und Liedtexte) 2006 daraus ein Musical, das 2010 seine Broadway-Premiere erlebte.
Wir schreiben das Jahr 1934: Der Tonfilm hat gerade den Stummfilm abgelöst – und als Reminiszenz an diese Zeit wird auf den Vorhang die Besetzung mit Foto, Rollenname und Darsteller projiziert. Dazu stimmt das Orchester unter dem einfühlsamen Dirigat von Andreas Fellner die Ouvertüre an, deren „old-fashioned sound“ uns gleich in Stimmung bringt. Christian Robert Müllers äußerst funktionales Bühnenbild entführt uns in eine Zwei-Zimmer-Hotelsuite in Cleveland, Ohio, in der Operndirektor Saunders und sein Assistent Max auf die Ankunft des Opernstars Tito Merelli und seiner Gattin Maria warten. Zu ihnen gesellen sich noch Saunders Tochter Maggie, auf die Max ein Auge geworfen hat, die Operndiva Diana Divane, der dreiköpfige Vorstand der Operngilde, die alle auf den Namen Anna hören und einst mit Saunders liiert waren – und natürlich der Opernchor. Als Tito wegen anhaltender Übelkeit zuviel Tabletten schluckt und in einen todesähnlichen Schlaf fällt, droht die Premiere zu platzen. Zum Glück hat Max nicht nur eine gute Stimme, sondern beherrscht auch die Partitur. Also schlüpft er ins „Otello“-Kostüm. Doch auch der „wiederauferstandene“ Merelli taucht plötzlich als Otello auf, genauso wie Saunders. Da es noch die Zeiten des „Blackfacing“ sind, schöpft niemand Verdacht – solange die Türen nur im richtigen Moment geknallt werden...
Es ist eine großartige Ensemble-Leistung, die hier zu bewundern ist. Ansgar Weigners Inszenierung bedient punktgenau das Zusammenspiel von rasanter Situationskomik und gepfefferten Dialogen, die in der deutschen Übersetzung von Roman Hinze zwar einen Hauch von Schlüpfrigkeit verströmen, aber nie unter die Gürtellinie zielen. Die drei Musical-erfahrenen Gäste Andrea Matthias Pagani (Merelli), Elena Otten (Maggie) und Lukas Witzel (Max) fügen sich nahtlos in das hauseigene Ensemble ein, aus dem Susanne Seefing als eifersüchtige Opernstar-Gattin mit herrlich italienischem Akzent ebenso herausragt wie Gabriela Kuhn (als Operndiva), die mit einem herrlichen, pantomimisch unterstützten Opern-Medley Pagani von ihren gesanglichen und körperlichen Vorzügen zu überzeugen versucht. Gesangeskunst und schauspielerisches Charisma vereinen sich da zu einem kleinen Gesamtkunstwerk. Aber auch Markus Heinrich (Saunders) meistert seine Rolle mit Bravour, wirkt wie ein ruhender Pol in all dem organisierten Chaos um ihn herum. Schade nur, dass Andrea Dane Kingston einen Wermutstropfen in diesen überschäumenden Musical-Freudenbecher fallen lässt: Mit der gleichen Wurstigkeit, mit der sie, respektlos Kaugummi kauend, den Premierenapplaus entgegennahm, hat sie Choreografien entwickelt, die des Stückes nicht würdig sind. Witzels und Ottens Körpersprache schreien geradezu nach Tanz-Duetten und die Musik nach einer fetzigen Stepp-Nummer. Fehlanzeige. Zum Glück die einzig verpasste Chance des äußerst unterhaltsamen Abends.
„Otello darf nicht platzen (Lend Me a Tenor)“ | R: Ansgar Weigner | 8.5., 25.5., 29.6. 19.30 Uhr | Theater Krefeld | 02151 80 51 25
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