Für Michal Rovner ist es eine Premiere. Die israelische, in New York und nahe Jerusalem ansässige Künstlerin ist im internationalen Kunstgeschehen längst etabliert, aber in Deutschland fand bislang keine größere institutionelle Ausstellung statt. Die Mischanlage der Kokerei auf dem Areal der Zeche Zollverein bietet dafür nun vorzügliche Bedingungen des Atmosphärischen und des Räumlichen. Die Dimensionen vermitteln eine monumentale Größe, aber auch etwas Bedrängendes, die Folge der Säle mit den breiten Durchbrüchen hat durchaus den Charakter eines Kerkers auf einer Höhe, die zumal im Dunklen wenig abzuschätzen ist. Die Ausstellung endet an der Stelle, an der sie begonnen hat, wäre da nicht die Treppe, die in die Tiefe zum eigenen Ausgang führt. Und zu all dem trägt das Mauerwerk bei, verletzt und pragmatisch ausgebessert, teils verschattet, teils im Licht der Projektionen von Michal Rovner, für die es nun als Projektionsfläche fungiert.
Ein wichtiger „Rohstoff“ der Arbeiten der 1957 geborenen Michal Rovner ist Stein. Stein ist Ausdruck für Geschichtlichkeit und Zeit, mithin zeigt es ein Überdauern an und ist damit zugleich Symbol für Widerstand. Und Stein ist das Material für den weiteren, größeren Zusammenbau. So hat Michal Rovner Steine aus den Ruinen jüdischer und palästinensischer Häuser in Jerusalem gesammelt und daraus wieder Architekturen errichtet. In Essen nun versteht sie das Mauerwerk als Teil der Arbeit, ohne in es einzugreifen, verdeutlicht dabei aber seine brüchige Beschaffenheit. Sie projiziert unterschiedliche, aber immer ähnlich angelegte Filme als Loop auf einzelne Wände und Wandflächen und in den Trichter der Mischanlage. Dabei geht es immer um das Gleiche, als Thema mit Variationen, das mithin einen Grundakkord menschlicher Existenz anschlägt. Zu sehen sind die winzigen Schatten von Menschen, die in die gleiche Richtung laufen als nicht endender Zug oder vereinzelt über einen Platz fluchtend oder aufeinander zu laufen und dann im Schwarz verschmelzen und als abstrakte Form senkrecht in die Höhe steigen, wodurch ein Kreislauf der Bewegung entsteht. Oder die Figuren laufen den Trichter aufwärts, werden dabei abstrakter und sind schließlich Schlieren, die in der züngelnden Gegenbewegung abwärts an Ölspuren erinnern. Dabei sind die Projektionen mit einem tiefen Ton unterlegt, der bisweilen an einen Sturm erinnert und das Bedrückende der Szene weiter verstärkt.
Die Figuren und ihr Laufen selbst wirken realistisch, fern von einem kollektiven Rhythmus, stattdessen sind Mäntel und Aktentaschen konkret zu sehen. Damit schafft Rovner den Sprung aus der Geschichte in die Gegenwart. Ein wichtiges Stilmittel ist dabei die Unschärfe. „Ich versuche eine Spannung zwischen dem Sein und dem Nicht-Sein zu erzeugen“, sagt Michal Rovner: Vielleicht spielt sich das Geschehen als aktuelle Erinnerung in unserem Kopf ab, vielleicht ist es eine Fiktion und eine Prophezeiung … Michal Rovner selbst ist wichtig, allgemeine Bilder für das Leben und Sterben zu finden und einen immer gleichen Turnus zu bannen: „Ich zeige den Zyklus von Erschaffung und Zerstörung“.
Dann, schon unten und kurz vorm Ausgang, nachdem man die groteske Situation mit dem Blick auf die Cafeteria, getrennt durch eine Glasscheibe, erfahren hat, trifft man auf eine erleuchtete Vitrine, in der ein verschnürtes Buch aus Stoff liegt, welches erst recht bedeutungsschwer ist. Aus der Nähe sieht man, wie die zeiligen, wie Schriftzeichen wirkenden Strichfolgen sich – infolge einer filmischen Projektion – als Züge tatsächlich winzig kleiner Figuren bewegen. Hier kippen erst recht alle Größenverhältnisse und die Fragen nach dem Hier und dem Selbst, nach der eigenen Macht über das Geschehen und der Hilflosigkeit. Und erst recht hier schwingt das Thema des Ewigen Juden mit, der Heimatlosigkeit, immer auf der Flucht.
Michal Rovner bewegt sich auf einem schmalen Grad zwischen Gelingen und Scheitern. Als jüdische Künstlerin und erst recht in einer Kohleanlage in Deutschland klingt das verstörende Faktum der Deportation und des Holocaust an. Ein anderes – wohl primär beabsichtigtes und zeitgenössisches – Motiv bezieht sich darauf, als Jude oder Palästinenser auf der ständigen Flucht zu sein und mit permanenten Gefahren und Gefährdungen zu leben. Natürlich passt diese Installation zur diesjährigen Ruhrtriennale und deren oft theatralischer Aufladung. Und sie schmiegt sich in ihren eindringlichen, nie endenden Bildern an die Räume an, sie schafft Betroffenheit, Verfangen-Sein in der Monumentalität und Dunkelheit der Säle, des Gebäudes wie der Rohheit des Ruhrgebietes. Hier wird alles zum Zeichen und Symbol – eine riskante Pathosformel, die Heiner Goebbels als Intendant auch hier initiiert hat und die deshalb aufgeht, weil Michal Rovner eine so gute und präzise Künstlerin ist.
Michal Rovner: Current | nur noch bis 30. September | täglich 10-18 Uhr | in der Mischanlage der Kokerei Zollverein in Essen | Bullmannaue 20a, Essen | www.ruhrtriennale.de
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