Als sich Europa in den 1980er Jahren anschickte, den Broadway zu erobern, waren der Engländer Andrew Lloyd Webber und sein französisches Pendant Claude-Michel Schönberg die Vorreiter eines neuen Musical-Stils, der sich mit seinen durchkomponierten Scores eher als Rock- oder Pop-Oper verstand.
Was bei „Das Phantom der Oper“ der ins Publikum stürzende Kronleuchter ist, ist bei „Miss Saigon“ der auf der Bühne landende Hubschrauber. Diese beiden Gags wird man immer mit diesen Musicals verbinden, während die Qualität ihrer Musik sich in zwei, drei Ohrwürmern erschöpft und ansonsten im kompositorischen Einheitsbrei ihrer Schöpfer verharrt. Auch Schönberg und sein Librettist Alain Boublil haben sich seit „Les Miserables“ nicht weiterentwickelt und mit „Miss Saigon“ eine ziemlich krudes Remake von „Madame Butterfly“ geschaffen, das den Vietnam-Krieg als Hintergrund für eine emotional aufgeladene Liebesgeschichte benutzt: Der US-Soldat Chris (blass: Ashley Gilmore) verliebt sich in die Vietnamesin Kim, die in einem Saigoner Nachtclub des zwielichtigen Zuhälters „The Engineer“ arbeitet. Chris will sie mit in die USA nehmen, doch beim Abzug der Amerikaner werden sie getrennt (hier kommt der Helikopter zu seinem ohrenbetäubenden „Auftritt“). Drei Jahre später erfährt er, mittlerweile verheiratet, dass er mit Kim ein Kind gezeugt hat. Chris reist mit seiner Frau Ellen (nur schauspielerisch überzeugend: Elana Martin) nach Bangkok, wo beide mittlerweile leben – und das Musical wird endgültig zur dramatischen Oper: Als Kim erkennt, dass sie Chris verloren hat, nimmt sie sich das Leben und zwingt ihn so, Tam mit in eine bessere Zukunft zu nehmen. Doch welche Mutter, die für ihr Kind nur das Beste will, erschießt sich vor seinen Augen und traumatisiert es damit ein Leben lang? Diese in Kitsch übergehende Überdramatisierung ist der dramaturgische Schwachpunkt eines Musicals, das ansonsten von seinem perfekten Produktionsdesign und seinen Showelementen (Choreografie: Bob Avian) lebt.
„Miss Saigon“ Kim (Sooha Kim) ist dabei unbestritten der Star des Abends, dem nur Leo Tavarro Valdez (als „The Engineer“) Paroli bieten kann, während die übrigen Figuren zu schwach herausgearbeitet sind, was man aber Buch und Inszenierung (Laurence Connor) anrechnen muss.
„Miss Saigon“ | R: Laurence Connor | bis 3.3 | Musical Dome Köln | 01806 10 10 11
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