Nach zwei Musicals („Julchen“, „Schinderhannes“) für die Schinderhannes-Festspiele Simmern hat Komponist Carsten Braun eine weitere lokale Sage in ein Musical umgewandelt. So erlebte Mayen nun die Welturaufführung von „Genoveva“, zu der Regisseur Peter Nüesch Buch und Lied-Texte geschrieben hat. Das Musical hat alles, was man von einer mittelalterlichen Geschichte um Liebe, Freundschaft, Verrat, Tod und wundersame Begebenheiten erwartet: Als Burgherr Siegfried (Simon Mehlich) in den Krieg zieht, übergibt er seine Frau Genoveva (Fabienne Hesse) der Obhut seines Freundes Golo (Roberto Simone). Der verliebt sich in Genoveva, bleibt aber unerhört. Die intrigante Magd Mathilda (Margareta Köllner) redet Golo ein, Genoveva habe ein Verhältnis mit dem Hofnarren Drago (Volker Dörffel), worauf dieser Drago tötet, Genoveva der Untreue bezichtigt und sie in den Kerker wirft.
Siegfried glaubt bei seiner Rückkehr mehr dem Freund als Genoveva, verurteilt sie zum Tode, nicht ahnend, dass sie schwanger ist. Die mit der Exekution beauftragten Ritter haben jedoch Mitleid der Herrin und setzen sie im Wald aus. Dort bringt sie einen Jungen zur Welt, der von einer weißen Hirschkuh gesäugt wird. Auf der Jagd nach dem sagenumwobenen Tier entdeckt Siegfried die Totgeglaubte und erkennt im Kind sofort seinen Sohn. Er lässt Golo vierteilen – und lebt fortan glücklich mit Frau und Kind auf der Genoveva-Burg....
Carsten Brauns Kompositionen schlagen gekonnt die Brücke zwischen mittelalterlichen Klängen und heutigem Rocksound. Mit „Allein“ (mit engelhafter Stimme: Margareta Köllner) gelingt ihm sogar ein großer Song, während man sich ansonsten öfters an „elisabethanische“ Rock-Pop-Klänge erinnert fühlt. Auch wenn Brauns Musik noch nicht den großen Musical-Atem hat, ist man doch dankbar, wenn ein Theater einem einheimischen Komponisten eine Chance gibt. Während Braun die Chance nützt, bleibt Sascha Littigs Ringelreih-Choreografie unter den Möglichkeiten, die Raum und Musik bieten. Dafür überzeugt er, zusammen mit Robby Plücker, als schwules Dienerpaar im Trachtenlook.
Leider hat Peter Nüeschs Libretto allenfalls Luft für 90 Minuten, zieht sich im 1. Akt redundant dahin, um dann nach der Pause hoppla-hopp gleich auf zwei Enden zuzusteuern. Da gibt es nach Siegfrieds Rückkehr einige unverständliche Handlungssprünge, so als habe man einige Seiten überschlagen. Während Nüeschs Regie-Stärken in der Schauspielerführung fast bei allen Akteuren greifen und zu manch hübsch herausgearbeiteten Charakteren (mit unaufdringlichem Gegenwartsbezug) führen, hat er sich und uns mit der (Ersatz-)Besetzung der männlichen Hauptrolle einen Bärendienst erwiesen: Der Belgier Roberto Simone, der den ursprünglich verpflichteten Guido Drell in der Rolle des Golo beerbt hat, kann zwar stimmlich überzeugen, zerstört sein physisches Charisma aber durch seine radebrechende Diktion. Auch wenn die Darsteller durch ihre Professionalität und Spiellaune das Beste aus dem Stück herausholen – für den Broadway reicht es noch nicht!
Die Burgfestspiele Mayen kehren im Mai 2016 zurück.
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