Eine fantastische Märchenmusik der tatarischen Komponistin Sofia Gubaidulina lag erst im vergangenen Sommer auf den Tournee-Pulten der Wiener Philharmoniker. Dieses Werk der 1931 geborenen und seit Jahren meistaufgeführten Künstlerin eröffnet jetzt die mehrtägige „Zeitinsel Gubaidulina. Festival zu Ehren einer Meisterin“, die im Konzerthaus Dortmund ausgerichtet wird.
Als junge Komponistin wurde sie in der damaligen Sowjetunion Opfer staatlicher Repression, weil ihre Musik westliche Prägung bevorzugte. Dmitri Schostakowitsch, dessen Assistent ihr Lehrer war, beschwor die junge Studentin persönlich, ihren „Irrweg“ fortzuführen. Diesen Rat hat die Komponistin befolgt. Ihr „Märchen-Poem“ von 1971 entpuppt sich entsprechend als Programmmusik mit vor einem halben Jahrhundert hippem und westlich orientiertem Vokabular: Flatterzungen in den Flöten, ansonsten warme Röhrenglocken, südländisches Flair in den Melodien und tänzelnde Rhythmen. Und das Sujet zeugt von menschlicher Wärme und sanftem Hintersinn – auch heute noch originell.
Die Musik erzählt das Märchen von einem Stück Kreide, das sein funktionelles Martyrium an einer Schultafel ertragen muss – sie sehnt sich aber nach inspirierten Traumlandschaften. Als ein Pennäler sie entwendet und auf der Straße Meer, Schlösser und Gärten zeichnet, ist sie glücklich – und bemerkt dabei gar nicht ihr rasant aufreibendes Ende. Gubaidulina interpretierte diese Geschichte als künstlerisches Schicksal.
Schicksalhaft fuhr auch die Pandemie in den Plan, dieses Projekt bereits in der Saison 2020/21 mit der Komponistin als Gast zu realisieren. Jetzt reichte die Kraft nur noch für eine genaue Planung des Programms. Angereist sind in Vertretung einige Instrumente aus ihrer privaten Sammlung. Elsbeth Moser interpretiert spezielle Werke der Geehrten für sehr spezielle Instrumente, so deren „De profundis“ für Bajan, eine Art Knopfakkordeon. Von Kammermusik bis zu großer Sinfonik erstreckt sich das Portrait, das Chorwerk Ruhr verbindet sich mit Schlagwerk und Solo-Cello im „Sonnengesang“, Bratschen-Star Antoine Tamestit spielt ihr Viola-Konzert und das ORF Radio-Symphonieorchester Wien interpretiert „Der Zorn Gottes“ aus 2020 – eine damals aktuelle Vision?
Zeitinsel Gubaidulina | 2.-5.2. | Konzerthaus Dortmund | 0231 22 69 62 00
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Sinfonische Vollender
Gil Shaham in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 11/24
Weiblicher Beethoven
Emilie Mayers 5. Sinfonie im Konzerthaus Dortmund – Klassik an der Ruhr 10/24
Ein Himmel voller Orgeln
Zwei Orgelfestivals in Köln und Düsseldorf – Klassik am Rhein 10/24
Mit virtuoser Blockflötistin
33. Festival Alte Musik Knechtsteden in Dormagen und Köln – Klassik an der Ruhr 09/24
Nach François-Xavier Roth
Der Abgang des Kölner GMDs sorgt für Umbesetzungen – Klassik am Rhein 09/24
Barock und Filmmusik
Open-Air-Konzerte „Viva Italia!“ im Ruhrgebiet – Klassik an der Ruhr 08/24
Exotische Musik
„Sounds of Nature“ und „Diálogos de amor“ beim Niederrhein Musikfestival 2024 – Klassik am Rhein 08/24
Akademische Bürgernähe
Michael Ostrzyga dirigiert „Elias“ in Bergheim und Köln – Klassik am Rhein 07/24
Pop-Hit trifft düstere Rarität
Semesterkonzert an der RUB – Klassik an der Ruhr 07/24
Musikalische Eröffnung der EM
Bundesjazzorchester mit Tom Gaebel in Dortmund und Köln – Improvisierte Musik in NRW 06/24
Bruckners „verfluchte“ Neunte
„Von Herzen – Letzte Werke“ in Bochum – Klassik an der Ruhr 06/24
Mit Hochdruck bei der Arbeit
Die Orgelfeierstunden im Kölner Dom – Klassik am Rhein 06/24
Aus Alt mach Alt
Tage Alter Musik in Herne 2024 – Klassik an der Ruhr 11/24
Ungewünscht brandaktuell
Auftakt zum Klangvokal Festival Dortmund 2024 – Klassik an der Ruhr 05/24