Sind junge Menschen faul? Diesen Eindruck bekommt leicht, wer in jüngerer Zeit eine Zeitung aufschlägt oder Diskussionen im Fernsehen verfolgt. „Work-Life-Sleep-Balance und Komasaufen“, wird etwa in der Welt das Bild der Gen Z zusammengefasst – also derjenigen Menschen, die zwischen 1995 und 2010 geboren wurden. Andrea Nahles, Chefin der Bundesagentur für Arbeit, richtete sich im Februar an die junge Generation, um mitzuteilen, dass Arbeit kein Ponyhof sei.
Prominente schlossen sich dieser Botschaft an. Laut Markus Lanz, gemeinsam mit Richard David Precht zu Gast beim Kongress „Zukunft Handwerk“, ist die Gesellschaft eine „Guaven-Dicksaft-Truppe [sic]“ geworden. Der Moderator wunderte sich, dass der Beruf des Beamten bei jungen Menschen ein beliebter Beruf sei. „Erwarten wir denn nichts mehr vom Leben?“ Im Nachhinein monierten Lanz und Precht in ihrem Podcast das mediale Echo, das ihre Äußerungen ausgelöst hatten. Dass es auf Twitter (heute X)mitunter chaotisch zugeht und schnell über die Stränge geschlagen wird, ist klar. Doch zwei Medienprofis mit jahrzehntelanger Erfahrung dürften wissen, dass solche Zitate Wellen schlagen.
Thomas de Maizières Geheimnis
AuchThomas de Maizière meldete sich zu Wort. Im Vorfeld des Kirchentags verlautete der ehemalige Bundesinnenminister (CDU) gegenüber der Zeit: „Mit Mitte zwanzig drei, vier Tage die Woche zu Hause arbeiten, um gegen 22 Uhr bei Lieferando noch einen Champagner zu bestellen. Und der Lieferant in prekären Arbeitsverhältnissen radelt mit der Flasche im November durch den Regen, darf dann hochsteigen in den fünften Stock. So entsteht keine soziale Gesellschaft.“ Was das eine mit dem anderen zu tun hat, mag de Maizières Geheimnis bleiben. Jedenfalls entsteht eine soziale Gesellschaft gewiss auch nicht, indem man soziale Gruppen gegeneinander ausspielt, und seine Partei ist gewiss nicht für ein großes Interesse an der Beseitigung prekärer Arbeitsverhältnisse bekannt. Ist nicht der Lieferant, um den sich de Maizière scheinbar sorgt, meist auch ein junger Mensch? Nebenbei: Knapp jeder zweite Nutzer von Lieferdiensten ist zwischen 35 und 55 Jahren alt.
Andere Zeiten
Niemand möchte den Älteren ihre Arbeitserfahrungen absprechen, aber der Arbeitsmarkt ist heute ein anderer als früher. Forderungen nach Homeoffice, flexiblen Zeiten oder einer Viertagewoche sind nun mal das, worauf heute viele – unabhängig von ihrem Alter – Wert legen. Und aufgrund der alternden Bevölkerung und des Fachkräftemangels in einigen Branchen können Arbeiter schlicht mehr fordern. Das kann man überzogen finden, aber es ist eine allgemeine Entwicklung am Arbeitsmarkt. Mit der Generation oder fehlender Arbeitsmoral hat das sehr wenig zu tun. Dass die Gen Z weniger arbeiten möchte, ist schlicht nicht belegt, die gewünschte Arbeitszeit ist konstant, wie Daten des sozioökonomischen Panels zeigen – eine der größten Langzeitstudien, die es in Deutschland gibt. Doch es hat Tradition, sich an „den jungen Leuten“ auszulassen.
Ablenkung von Problemen
Die Debatte um die Gen Z und ihre Work-Life-Balance führt in die falsche Richtung. Wichtiger wäre es, über höhere Löhne zu sprechen, nicht zuletzt für vor allem für Auszubildene, und eine bessere Berufsorientierung. Denn nur ein Drittel der Schulabsolventen fühlt sich gut auf den Berufsstart vorbereitet. Auch lässt sich die Lücke, die durch den demografischen Wandel entsteht, absehbar nur durch Zuwanderung schließen. Heikle Themen. Wer darüber nicht sprechen oder gar davon ablenken möchte, mag die Generationendebatte aus der Mottenkiste holen. Das hilft aber niemandem.
DIGITAL UNVERBUNDEN - Aktiv im Thema
aktiv-gegen-mediensucht.de | Der Verein Aktiv gegen Mediensucht setzt sich ein für die „Entstigmatisierung, Prävention, Vernetzung, Beratung und Therapie von Mediensucht“.
ausstellung-neuland.de | Der Expotizer der zurückliegenden Ausstellung „#neuland: Ich, wir und die Digitalisierung“ fasst spielerisch Aspekte der Digitalisierung zusammen.
caritas.de/hilfeundberatung/sucht/haeufig-gestellte-fragen-zu-medien-und-h | Ein kompakter Überblick der Caritas über Fragen zu Medien- und Handysucht.
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