Nur noch müde lächelt das Publikum heute über vieles, das vor 30, 40 Jahren auf der Bühne noch als echte Provokation durchging. Die einst gebrochenen Tabus von Sex und Gewalt gibt es so schlicht nicht mehr. Richard Straussens Oper „Salome“ ist schon über 112 Jahre alt, und die Provokation hat kein bisschen an Sprengkraft verloren. Da hält die Titelfigur auf dem Höhepunkt des Stücks Zwiesprache mit einem abgeschlagenen Kopf, den sie sich auf einem Silbertablett hat servieren lassen – und küsst ihn dann auch noch auf den Mund. Das ist wirklich krank – und immer noch schockierend. Wie durch und durch pervers die pseudo-biblische Geschichte ist, zeigt Mariame Clément in ihrer Inszenierung am Essener Aalto-Theater.
Mit ihrem Interpretationsansatz ist die Französin keine Vorreiterin mehr: Ihre Sichtweise der jungen Salome als Opfer eines sexuellen Missbrauchs durch ihren Stiefvater Herodes gilt mittlerweile als Konsens und ist auch mehr als naheliegend. Cléments besonderer Dreh ist die konsequente Einnahme der Perspektive Salomes. Für schwüle Altherrenfantasien, wie sie vor allem der bekannte „Tanz der sieben Schleier“ verkörpert, bleibt da kein Platz mehr. Der Tanz in Essen mit Maske und Tüllrock gerät zur Pantomime einer erlittenen Vergewaltigung. Salome ist ein gequälter Teenager, der sich die Arme ritzt – und keine raffinierte Femme fatale.
Um das alles klar über die Rampe zu bringen, bedient sich die Regie einiger Videoeinspieler, die auch das Bühnenbild von Julia Hansen motivieren: Zu sehen ist zuerst eine noch sehr kleine Salome, die zum Geburtstag von Mutter (Marie-Helen Joël mit leicht giftiger Attitüde) und Stiefvater ein großes Paket mit einem Tüllrock erhält. Nach kurzer Überblendung ist Salome an ihrem 18. Geburtstag zu sehen. Wieder gibt es ein großes Paket, doch sie will es nicht haben. Im Folgenden wird der Zuschauer Zeuge dieses Geburtstags in einem Zimmer voller leerer Schachteln.
Annemarie Kremer wirkt als Salome tatsächlich noch sehr jugendlich, klingt aber keineswegs niedlich. Die hitzigen Abgründe, die sie stimmlich in ihrer Schlussszene auftut, sind beeindruckend. Rainer Maria Röhr verkörpert als Herodes einen mächtigen Geschäftsmann mit viel Geld und eigenem Wachdienst, aber ohne Klasse. Im Keller halten die Securities den Fanatiker Jochanaan (charismatisch: Almas Svilpa) gefangen. Ein Verbrecher ist Herodes in jedem Fall. Am sexuellen Missbrauch seiner Stieftochter Salome lässt die eindringlich bedrückende Inszenierung keinen Zweifel.
GMD Tomáš Netopil beweist einmal mehr, wie virtuos seine Philharmoniker das Strausssche Gefüge paralleler Tonarten und seine „Nervenkontrapunktik“ beherrschen. Eine Produktion, in der Musik und Inszenierung perfekt ineinander greifen.
„Salome“ | R: Mariame Clément | Fr 8.6. 18.30 Uhr, So 1.7. 18 Uhr | Aalto-Theater Essen | www.theater-essen.de/oper/
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