Der Titel geht nur schwer über die Lippen, die Ausstellung aber ist zupackend und anschaulich. Die Kunsthalle Düsseldorf zeigt zeitgenössische Kunst, die auf Archetypen aus dem Bild- und Vorstellungsreservoir des Unterbewusstseins basiert. Dazu gehören der Kopf als Fratze oder Maske und der Körper in seinen Beschädigungen, zerstückelt und reduziert auf Gliedmaßen. Ein künstlerischer Bezugspunkt sind die „Jungen Wilden“ um 1980, die sich mit expressivem Gestus dem Ich in seiner Alltäglichkeit und seinen Ausschweifungen zuwandten. Damit beginnt die Ausstellung. Antonius Höckelmanns Bildzeichnungen und Skulpturen vermitteln mit ihren Farbstrudeln höchste innere Aufwühlung. „Geordneter“ geht es in den Werken der Kölner Gruppe „Mülheimer Freiheit“ zu, jedenfalls so wie diese hier in den Malereien von Peter Bömmels, Walter Dahn und Jiři Georg Dokoupil zu sehen sind. Das Rätselhafte und Humorvolle tritt in diesen Varianten des Körperlichen in den Vordergrund und doch bleibt alles schön kalkuliert.
Im gleichen Ausstellungsraum, aber deutlich davon getrennt, befinden sich Werke von sogenannten Outsider-Künstlern, psychisch kranken Menschen, die ganz aus sich heraus schöpfen und bei denen die Unmittelbarkeit des Ausdrucks authentisch ist. Diese Werke sind ein weiteres Indiz für das Kollektive der Sujets dieser Ausstellung. Neben mehreren phantasievollen und schablonenhaften Zeichnungsblöcken, die große Individualitäten erkennen lassen, sind gehäkelte Objekte von Alfred Stief ausgestellt. Auch sie kreisen um Köpfe, Körper teils ohne Extremitäten, und sie treten wie Mumien auf. Sie verleihen den Strickmasken von Rosemarie Trockel, die in einer Vitrine flächig ausgelegt sind, einen weiteren emotionalen Kontext. Der Kopf als mentales Zentrum zwischen psychischer An- und Abwesenheit, Gefährdung und Aggression wird dann im gegenüberliegenden Saal thematisiert. Aber inwieweit sind das Köpfe? Günther Förg spricht bei seiner Folge von kleinen glänzenden Bronzen von Masken; die beiden kalkig weißen, so grob wie zerbrechlich wirkenden langgestreckten Häupter von Franz West gehören „Lemuren“, hier wie da erkennbar an den Primärmerkmalen. Aber genau dort, wo die Schau am visuell stärksten ist, ist sie am begrifflich unschärfsten – Köpfe und Kopfformen trennt tatsächlich mehr als sie verbindet; die Ausstellung vertieft dieses Bedeutungsspektrum kaum.
Wie selbstverständlich indes die Formulierung von Archaik, Fragmentierung und Verzerrung des Körpers – und die Präsenz von Urinstinkten (so bei Meese und Tal R.) – bei den jüngsten Künstlergenerationen ist, zeigen dann die Beiträge im Obergeschoss. Ist „Outside“ damit nicht konform, also salonfähig und gar nicht mehr so aufwühlend? Schlimmer Verdacht in einer spannenden Ausstellung.
„Avatar und Atavismus. Outside der Avantgarde“ | bis 8.11. | Kunsthalle Düsseldorf | 0211 892 91 68
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