Wagner entwirft den Stoff zu seinem Nibelungenepos im Revolutionsjahr 1848, im Maiaufstand 1849 steht er in Dresden selber auf den Barrikaden und muss ins Exil fliehen. Die germanische Mythologie und der Nibelungenstoff dienen ihm als Chiffre, um politischen Zündstoff auf die Bühne zu bringen, nämlich eine Parabel über die soziale und politische Misere in Deutschland Mitte des 19. Jahrhunderts.
Seit der Wiederentdeckung des mittelhochdeutschen Nibelungenliedes Mitte des 18. Jahrhunderts wurde das Sujet in der Folge zum Nationalepos der deutschen Romantik. In einer Zeit, in der es keinen deutschen Nationalstaat gab, suchte man in literarischen Zeugnissen der Vergangenheit nach nationaler Identifikation. Wagner verbindet Teile des mittelhochdeutschen Textes und der germanischen Edda-Dichtung, um eine deutsche Nationaloper zu schaffen, eine „große Heldenoper“, in der das Scheitern Siegfrieds und sein Tod im Mittelpunkt stehen. Siegfried ist der Hoffnungsträger auf gesellschaftliche Erneuerung, doch wird der naive Held Opfer von Intrigen im Kampf um die Macht und geht als Einzelkämpfer unter.
Der komplexe Handlungsverlauf verlangt nach Vorgeschichten, so dass Wagner drei zusätzliche Stücke verfasst, die der Götterdämmerung voran gehen: „(Der junge) Siegfried“, „Rheingold“ und „Walküre“. Parallel zum Text entstehen kompositorische Skizzen, erst 26 Jahre später ist das Gesamtwerk vollendet. Die zahlreichen Unterbrechungen nehmen großen Einfluss auf Wagners Stil: Zentrale Schriften des Komponisten zur Theorie der Oper entstehen, in denen er radikal mit der Tradition seiner Zeit bricht. Das Wagnersche Musikdrama lässt die griechische Tragödie in ihrer theatralischen Wucht aus dem Geist der Musik neu entstehen, das Orchester übernimmt die Funktion des antiken Chores und kommentiert instrumental das Geschehen. Wagner beabsichtigt eine überwältigende Wirkung mit dem „Kunstwerk der Zukunft“, das eine Katharsis, ein Umdenken auslösen soll.
1876 findet die erste zyklische Aufführung in Bayreuth statt. Wagner ist längst vom frühsozialistischen Revolutionär zum Komponistenfürsten Ludwigs II. aufgestiegen. Dennoch hält er an seinem sozialrevolutionären Konzept fest, am Ende der Götterdämmerung erklingt im Orchesternachspiel eindringlich das Erlösungsmotiv wie ein Appell – eine Gesellschaft ist nur überlebensfähig, wenn sie auf Humanität und Mitmenschlichkeit gründet.
Wo zu sehen in NRW?
Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf: 27.10.(P), 1.11., 18.11., 25.11. je 17 Uhr; 2.12. 15 Uhr | 0211 892 52 11
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Besiegt Vernunft die Leidenschaft?
„Orlando“ an der Oper Köln – Oper in NRW 11/24
Unerwartet Kaiserin
„Der Kreidekreis“ in Düsseldorf – Oper in NRW 11/24
Die Königin der Operetten
„Die Fledermaus“ an der Oper Dortmund
„Was dieser Mozart gemacht hat, will ich auch machen“
Komponist Manfred Trojahn wird 75 Jahre alt – Interview 10/24
Horror und Burleske
Die Spielzeit 24/25 am Gelsenkirchener MiR – Oper in NRW 07/24
„Das ist fast schon eine Satire“
Alexander Becker inszeniert „Die Piraten von Penzance“ am Opernhaus Dortmund – Premiere 07/24
Opern-Vielfalt am Rhein
„Nabucco“ eröffnet in Düsseldorf die Spielzeit 2024/25 – Oper in NRW 06/24
Welt ohne Liebe
„Lady Macbeth von Mzensk“ am Theater Hagen – Oper in NRW 05/24
„Erstarrte Konzertrituale aufbrechen“
Interview mit dem Direktor des Dortmunder Festivals Klangvokal, Torsten Mosgraber – Interview 05/24
Der Ring und ein schwarzer Berg
Wagner-Kosmos in Dortmund zu „Mythos und Wahrheit“ – Oper 05/24
Noten sind nicht maskulin
Das Komponistinnenfestival Her:Voice in Essen – Festival 05/24
Die Gefahren der Liebe
„Die Krönung der Poppea“ an der Oper Köln – Oper in NRW 05/24
„Kritische Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit“
Kapellmeister Hermes Helfricht über Werner Egks „Columbus“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 06/24
Absurde Südfrucht-Fabel
„Die Liebe zu den drei Orangen“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 04/24
Grund des Vergessens: Rassismus
Oper von Joseph Bologne am Aalto-Theater Essen – Oper in NRW 03/24
Verpasstes Glück
„Eugen Onegin“ in Bonn und Düsseldorf – Oper in NRW 02/24
Täuschung und Wirklichkeit
Ein märchenhafter Opern-Doppelabend in Gelsenkirchen – Oper in NRW 02/24
Unterschätzte Komponistin?
„Der schwarze Berg“ an der Oper Dortmund – Oper in NRW 01/24
Geschlossene Gesellschaft
„Flight“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 01/24