Am Ende soll es ihm nicht so recht gefallen haben, was der renommierte Regisseur Erik Charell da aus seiner Erfolgsoperette gemacht hat. Doch Franz Lehár hatte seine Genehmigung erteilt, nun gab es kein Zurück mehr. Und so war nach über 20 Jahren aus der „lustigen Witwe“ eine Revueoperette geworden. Neben dem klassischen Orchester saßen nun auch ein Jazz-Schlagzeuger, ein zupfender Bassist und ein Banjo-Spieler im Orchestergraben. Als lustige Witwe konnte Charell 1928/29 Fritzi Massary gewinnen, die seinerzeit der wohl größte deutschsprachige Operettenstar war. Für sie, fand jedenfalls Charell, reichte Lehárs Titelpartie der Hanna Glawari nicht aus. Sie sollte mehr Gewicht bekommen im Stück. Und so machte sich Charells Musikarrangeur Adam Gelbtrunk daran, mehr Nummern für sie ins Stück einzubauen, Nummern aus weiteren Operetten – von Lehár und auch von anderen. Damit das alles noch Sinn ergab, begannen Charells Librettisten Rudolph Schanzer und Ernst Welisch, die Geschichte umzustricken. Am Ende blieb kein Stein mehr auf dem anderen: Sogar die Rollennamen wurden geändert.
Wie das Stück en detail ausgesehen hat, weiß heute niemand mehr. Und genau das hat bei historisch versierten Operettenprofis den Forschergeist geweckt. Matthias Grimminger, der bei den Dortmunder Philharmonikern seit 30 Jahren die Bassklarinette spielt, hat mit seinem Kollegen Henning Hagedorn schon eine ganze Reihe alter Operettenfassungen rekonstruiert. Ihr neuester Coup ist nun „Die lustige Witwe“ in der Revuefassung. „Wir haben uns musikalisch mit viel Akribie angenähert“, sagt Grimminger, „im Geiste jener Zeit“ – den Roaring Twenties.
Für die szenische Annäherung an Charells „jazzig“ aufgepeppte Witwe zeichnet Regisseur Thomas Enzinger verantwortlich, wie auch schon zuvor bei Operetten wie „Die Blume von Hawaii“, „Roxy und ihr Wunderteam“ oder „Im weißen Rößl“ in Dortmund. Die Stücke Fanz Lehárs liegen Enzinger besonders am Herzen. Seit 2017 ist Enzinger Intendant des Lehár-Festivals in Bad Ischl im Salzkammergut. Die musikalische Leitung hat Dortmunds zweiter Kapellmeister Philipp Armbruster gemeinsam mit Generalmusikdirektor Gabriel Feltz.
Wie die „Musik-Archäologen“ bei ihrer Rekonstruktion im Einzelnen vorgegangen sind, werden sie gemeinsam mit Kapellmeister Philipp Armbruster sowie weiteren fachkundigen Gästen bei einem musikwissenschaftlichen Symposion am Premierenwochenende erörtern. Thema: die historisch informierte Aufführungspraxis der Jazzoperette. Die Vortrags- und Diskussionsveranstaltung richtet sich zwar in erster Linie an ein Fachpublikum, willkommen sind aber auch interessierte Zuhörer ohne Musikstudium. Der Eintritt ist frei. Es müssen allerdings Zählkarten reserviert werden.
Die lustige Witwe | R: Thomas Enzinger | Premiere 29.1. 19.30 Uhr, weitere Vorstellungen | Theater Dortmund | www.theaterdo.de
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