Das Ich ist nicht Herr im Hause. Eine Erkenntnis, mit der Sigmund Freud die Moderne bis in unsere Tage prägte. Und weil es unter dem Kontrollverlust leidet, beginnt das Ich ein tyrannisches Regime zu errichten. Aber wer nicht akzeptiert, dass das Leben nicht bis in den letzten Winkel beherrschbar ist, erliegt zwangsläufig einem Realitätsverlust. Künstler sind daher auf besondere Weise anfällig für das drakonische Spiel der Neurosen. Sylvana Seddig, die sich in ihren Arbeiten als Tänzerin und Choreographin mit mutiger Konsequenz an den Grenzen von Körper und Realität bewegt, wagt sich in ihrer neuen Produktion „Neurosen und Altlasten“ – die sie jetzt auf dem Gelände von Barnes Crossing präsentierte – in die Welt des Narzissmus.
Dazu kuschelt man sich zunächst windelweich aneinander, mit einer Einladung an das Publikum zum Plausch beim Bier über glückliche Lebensmomente. Auch das Angebot zur gegenseitigen Massage fehlt nicht. Dann treten die sanften Kommandos esoterischer Selbsthilfegruppen auf den Plan. Narzisstische Selbstbetrachtung und „Atmen durch den Nabel“ ist angesagt. Im Untertitel ist dann auch vom „Psychotanz mit Ich, Mir und Mich“ die Rede. Gestalt nehmen diese drei Formen des Selbst in den Aktionen von Johanna Roggan, Jan Werge und Tim Gerhards an. Das Ich beginnt seine tyrannische Seite zu offenbaren, ohne deren dunkle Anteile jedoch wirklich zu berühren. Narzissmus kann mörderische Dimension annehmen, aber soweit wirft man hier nicht die Angel der Erkenntnis aus. Der Ton wird hingegen lauter und die Selbstbespiegelung mündet in einem effektvollen Tanz mit glitzernden Zelluloidstreifen. Wie so manches in dieser Produktion, verweist auch dieses Detail auf raffinierte Bezüge, wie das Licht der Medien und die selbstverliebten Rituale des egozentrischen Starkults.
Bedeutungsschwanger will man sich nicht geben, eher im Gegenteil, es wird gespielt, gescherzt und im Grunde nur minimalistisch getanzt. Ein gefährliches Spiel, das sich stets nahe an Banalität und Beliebigkeit bewegt, aber dennoch nicht abstürzt. Dafür sind die Ideen von Sylvana Seddig doch zu klug in ihrem frischen, provokanten Gestus. Im Schlussbild beißen die drei Tänzer sozusagen ins Gras, wenn sie sich unter die Grasnarbe legen und das monologisierende Ich an sich selbst zugrunde gegangen ist. Dieser Schalk, mit dem hier psychische Phänomene angerissen werden, überzeugt das Publikum. Die Ironie, mit der die drei Akteure über die Bühne stolzieren, verfängt. Freilich werden von überallher Motive angestoßen, denen die Produktion dann nicht folgt. Vieles ist nur angedacht, so dass der Inszenierung letztlich die Kohärenz fehlt. Dennoch macht es Spaß, die Neurosen lustvoll auszustellen. Sylvana Seddig wird den tieferen, dramatischeren Dimensionen dieses Themas garantiert noch nachgehen, das Talent dazu bringt sie jedenfalls schon einmal mit.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Panoramafenster
Neuss bietet mit den Tanzwochen Produktionen der großen Kompanien – Tanz in NRW 09/14
Klein gebackene Brötchen
Wie die zaudernde Tanzförderung in NRW selbst Erfolge kappt – Tanz in NRW 09/14
Brasilien erfolgreich mit europäischer Strenge
Die Companhia aus São Paulo war am 11. Juli in der Oper Köln – Tanz in NRW 07/14
Tödliche Sentimentalität
Das Flow Dance Festival eröffnet mit Star-Choreograph Israel Galván – Tanz in NRW 06/14
Scharfe Bilder
Wie der Fotograf Werner Meyer den Tanz im Bild realisiert – Tanz in NRW 05/14
Verführerische Königin
Emanuele Soavi bietet ein 90-minütiges Feuerwerk des Ensembletanzes – Tanz in NRW 03/14
Flow Dance Festival 2014 – Tanz am Strom
Motto „World meets NRW“ garantiert hohes Niveau – Tanz in NRW 04/14
Köstliche Verführung
Das Choreographen-Projekt „Three“ zeigt Reut Shemesh in Bestform – Tanz in NRW 03/14
Licht bei hereinbrechender Dunkelheit
Das Europäische Netzwerk studiotrade praktiziert Selbsthilfe in Zeiten des Tanznotstands – Tanz in NRW 03/14
Junge Triebe
Tanz für Kleine und Allerkleinste – Tanz in NRW 02/14
Der Tanz mit der Leber
bodytalk verwandelt das Tanztheater in ein Labor der Künste – Tanz in NRW 01/14
Im Schatten der Antilopen
Akram Khan zeigt die Sprengkraft von Strawinskys „Sacre“ in Düsseldorf und Köln – Tanz in NRW 12/13
Im Kreisrund sind alle gleich
4. Ausgabe des Festivals Zeit für Zirkus – Tanz in NRW 11/24
War das ein Abschied?
Sônia Motas „Kein Ende“ in den Kölner Ehrenfeldstudios – Tanz in NRW 10/24
Supergau?
Die TanzFaktur steht wieder einmal vor dem Aus – Tanz in NRW 09/24
Kaffee, Kuchen, Stacheldraht
12. Tanz.Tausch Festival in der Kölner TanzFaktur – Tanz in NRW 08/24
Wunderbar: alles ohne Plan
„Leise schäumt das Jetzt“ in der Alten Feuerwache – Tanz in NRW 07/24
Vor der Selbstverzwergung
Ausstellung zu den „Goldenen Jahren“ des Tanzes in Köln – Tanz in NRW 06/24
Philosophie statt Nostalgie
Das Circus Dance Festival in Köln – Tanz in NRW 05/24
Das Unsichtbare sichtbar machen
Choreographin Yoshie Shibahara ahnt das Ende nahen – Tanz in NRW 04/24
Tennismatch der Kühe
„Mata Dora“ in Köln und Bonn – Tanz in NRW 03/24
Kommt die Zeit der Uniformen?
Reut Shemesh zeigt politisch relevante Choreographien – Tanz in NRW 02/24
Am Ende ist es Kunst
Mijin Kim bereichert Kölns Tanzszene – Tanz in NRW 01/24
Eine Sprache für Objekte
Bundesweites Festival Zeit für Zirkus 2023 – Tanz in NRW 11/23
Die Sprache der Bewegung
Die Comedia lockt das junge Publikum zum Tanz – Tanz in NRW 10/23