Der Vorwurf war ebenso abwegig wie zynisch; und doch hielt der damit ausgesprochene Bann de facto über Jahrzehnte. Einen „abstrakten Humanismus“ hatte die sowjetische Zensur dem Librettisten Alexander Medwedew und dem Komponisten Mieczysław Weinberg für ihre Auschwitz-Oper „Die Passagierin“ vorgeworfen. Die bereits begonnenen Proben zur Uraufführung am Bolschoi-Theater wurden 1968 klammheimlich abgebrochen, und das Stück verschwand für mehr als 35 Jahre in der Schublade. Erst 2006 gab es die konzertante Uraufführung in Moskau, 2010 die erste Inszenierung bei den Bregenzer Festspielen.
Seither geht der Zweiakter mit großem Erfolg um die Welt. Nach Karlsruhe und Frankfurt reiht sich das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier nun ganz vorne in die Reihe deutscher Bühnen ein, die das wichtigste Werk des gebürtigen Polen und Juden Weinberg zeigen. Es beruht auf dem gleichnamigen autobiografischen Roman der polnischen Journalistin Zofia Posmysz-Piasecka, die zweieinhalb Jahre als politische Gefangene im Frauenlager Auschwitz-Birkenau verbrachte.
Gabriele Rech inszenierte das Stück, dessen Rahmenhandlung in den 50er Jahren auf einem Transatlantik-Schiff nach Südamerika spielt, mit Realismus en detail, aber eher zurückhaltenden Bühnenmitteln. Die Kulisse von Dirk Becker zeigt die elegante Schiffsmesse, in die die SS-Leute und KZ-Gefangenen in Rückblenden wie Geister aus dunkler Vergangenheit einbrechen. Hanna Sturludóttir singt die Lisa als ambivalente Figur, zunächst so elegant, dass man ihr die zackige Aufseherin anfangs gar nicht abnehmen will. Doch die Verwandlung zu einem schärferen, militärischeren Ton gelingt ihr in den Rückblenden. Tatsächlich erscheint sie nicht als Unmensch, aber als letztlich fügsames Rad im SS-Getriebe.
Tenor Kor-Jan Dusseljee singt Lisas – selbst offenbar unbelasteten – Diplomaten-Gatten, der nun Angst um seine Karriere hat, mit Schneid und Präsenz. In seinem Habitus ähnelt er durchaus den SS-Offizieren in den Rückblenden. Die größte Strahlkraft entwickelt in dieser Produktion indes Ilia Papandreou als Marta, die mit kraftvollem Sopran spürbar in ihrer Rolle aufgeht. „Abstrakt“ ist an der Partitur Weinbergs allenfalls die teilweise von der Tonalität gelöste Tonsprache. Sie hat Ähnlichkeiten mit der Musik seines Mentors Dimitri Schostakowitsch, besitzt aber durchaus ein hohes Maß an Originalität. Dirigent Valtteri Rauhalammi begegnet ihr mit großer Sorgfalt und Wertschätzung. Das Orchester spielt exzellent auf. Tatsächlich fürchtete die Sowjet-Zensur wohl weniger die Musik als eher die Handlung; dass die KZ-Geschichte beim Publikum Assoziationen mit ihren eigenen Gulag-Lagern wecken könnte. In einer anderen Passagierin erkennt Lisa eine ehemalige Gefangene ihres Arbeitskommandos: Marta. Lisa hatte Marta mit Gefälligkeiten versucht, für sich einzuspannen. Doch Marta erwies sich als stolz, charakterstark und widerspenstig. Man werde niemals vergessen, niemals vergeben, versprechen sich die gefangenen Frauen im Lager.
„Die Passagierin“ | R: Gabriele Rech | So 2.4., So 23.4. 18 Uhr | Musiktheater im Revier Gelsenkirchen | 0209 409 72 00
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