Wie verleiht man dem Individuellen seine Würde? Ellen Keusen sucht nach dem Einzelnen, das unter ihrer Hand dann allerdings zum Besonderen wird. Wenn die Kölner Künstlerin einen „Anemonenstrauß“ zeichnet, dann sieht man ein Leporello mit vielen Anemonen, von denen jede in Größe und Wuchs unterschiedlich ist. „Wie kann ich mich dem Individuum zuwenden?“, diese Frage beschäftigt sie in wechselnden Sujets. In der Kunst- und Museumsbibliothek sind jetzt Leporellos und Künstlerbücher von ihr unter dem Titel „Probebühne“ zu sehen. Geprobt wird in kleinen Formaten, was dann vielleicht einmal zu einer großen Arbeit werden kann. Tatsächlich handelt es sich bei den gezeigten Blättern aber keineswegs um experimentelle Spielereien, jede Arbeit ist mit großer Originalität zunächst konzeptionell durchdacht und dann mit Präzision realisiert worden.
Unter die Haut geht ihr Buchobjekt „Berta, ich“, in dem sie auf 334 Seiten für ermordete Kölner Kinder jüdischer Familien jeweils einen Satz mit dem Versprechen etwas zu tun, gedruckt hat. „Bela, ich stricke eine Jacke für deinen Bären“, heißt es da etwa. Die Versprechen sind dem Alter der Kinder angepasst. Die Kinder als individuelle Zeichen tauchen auch in einer großen Arbeit auf. Das Bild hält dazu an, sich die Gesten der angsterfüllten Kinder in einem Hof vorzustellen.
In Japan hat die 68-jährige Künstlerin – die mit der rechten und der linken Hand zu zeichnen vermag – eine Würfelstrategie entwickelt, um sich nicht mehr von den eigenen Schönheitsvorstellungen leiten zu lassen. Sie warf in Kyoto einen Würfel für die Schrittzahl auf dem Weg, einen für die Richtung, in die sie schaute und entschied dann, das zu zeichnen, was sie vorfand. Bei allem, was Ellen Keusen entwickelt, macht sich schnell eine Neigung zur Präzision bemerkbar. Deshalb weisen die Bilder eine große Detailfreude und ein hohes Maß an Realismus auf. Zeichnet Ellen Keusen Hinterköpfe der Besucher einer Lesung, wird scheinbar jedes Haar und jeder Jackenkragen Teil einer individuellen Charakteristik. „Probebühne“ ist eine Ausstellung, mit der man Eintritt in eine Welt voll Inspiration und Hinwendung an den Gegenstand erhält. Wie sieht er aus, wie ist er beschaffen? Mit diesem analytischen Ansatz öffnet sie den Blick für die Realität. Dann vollzieht sie jedoch einen weiteren Schritt, indem sie sich auf das emotionale Potenzial eines Gegenstands einlässt. So präsentiert sie mit der ihr eigenen Fähigkeit zur Empathie eine Ausstellung, in der sinnliche Freude und bewegende Momente der Trauer untrennbar miteinander verflochten sind.
„Probebühne, Künstlerbücher von Ellen Keusen“ | bis 17.5. (Do 10-21 Uhr, Fr -So 10-18 Uhr, Mo 14-21 Uhr) | Kunst- und Museumsbibiothek der Stadt Köln / Lesesaal im Museum Ludwig | 0221 22 12 26 26
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