Unter Amateurfotografen mit Hang zu morbider Romantik sind sie schwer angesagt: so genannte „Lost Places“, vergessene Orte, die ihre Funktion verloren haben wie aufgegebene Fabriken oder Krankenhäuser. In der Oper Köln ist nun ein solcher „Lost Place“ auf der Bühne zu erleben: als Zuhause von Hänsel und Gretel in der gleichnamigen Oper von Engelbert Humperdinck. „Die Kinder leben auf einem geschlossenen Jahrmarkt“, erklärt Bühnen- und Kostümbildnerin Dominique Wiesbauer. „Der Vater war so etwas wie der technische Leiter des Jahrmarkts. Nun ist er geschlossen, aber die Familie ist immer noch da und lebt in einem Wohnwagen. Die Familie ist verarmt, aber nicht unglücklich.“
„Wie kommt man auf sowas?“, mag sich da das Publikum fragen. Und die Antwort ist überraschend: „Die Idee ist kein Zufall“, so Wiesbauer. „Ich war selber ein Jahrmarktskind. Meine Eltern hatten einen Jahrmarkt, und ich kenne das Leben im Wohnwagen. Das ist sehr naturverbunden. Man macht ja praktisch alles draußen. Und das ist sehr ähnlich wie bei Hänsel und Gretel mit ihrer großen Nähe zu Natur und Wald.“
Also Friede, Freude, Eierkuchen? Nicht so ganz: Der soziale Abstieg des Vaters vom adretten Mittelständler zum schmuddeligen Hungerleider ist deutlich an den Kostümen abzulesen. „Es gibt durchaus auch Kapitalismuskritik in der Inszenierung“, verrät Wiesbauer. „Kinderarmut ist ein Thema, und wir haben uns gefragt: Womit lockt man Kinder heute?“ – Die Antwort: Nicht mehr so sehr mit Backwaren wie beim Lebkuchenhaus, sondern mit Konsum.
Das klassische Lebkuchenhaus kommt dennoch auch in der Kölner Inszenierung vor. „Wir wollten das Magische, den märchenhaften Aspekt, nicht verlieren“, berichtet Wiesbauer. „Es ist keine abstrakte Inszenierung für Erwachsene geworden.“ Im Gegenteil: „Es wird ganz schön viel zu sehen geben“, verspricht die Ausstatterin. „Die Werkstätten haben sich geradezu verausgabt.“
Das visuelle Konzept hat Wiesbauer „Hand in Hand“ mit der Regisseurin Béatrice Lachaussée und dem Animations- und Videokünstler Grégoir Pont erarbeitet. „Wir haben sehr viele Projektionen innerhalb des Bühnenbildes“, so Wiesbauer, „Darsteller und Video verschmelzen stellenweise miteinander.“
Für die Musik, die keineswegs nur kinderliedartig ist, sondern in ihrer Komplexität an den Stil Richard Wagners erinnert, zeichnet Dirigent Arne Willimczik verantwortlich.
Die böse Stiefmutter der Gebrüder Grimm kommt in der Opernadaption dank der Librettistin Adelheid Wette übrigens wesentlich besser weg. Auch in der Kölner Inszenierung wird das so sein: „Wir haben Verständnis für die Stiefmutter. Sie ist Opfer ihrer Umstände. Ansonsten lebt die Patchworkfamilie in einem guten Verhältnis zwischen Eltern und Kindern.“ Ein Happy End fällt da umso leichter. Und so viel sei verraten: Es wir ein nasses – wenngleich auch nur in der Illusion.
Hänsel und Gretel | R: Béatrice Lachaussée | 2., 9., 16.1. je 18 Uhr (weitere Termine online) | Oper Köln | 0221 22 12 84 00
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Besiegt Vernunft die Leidenschaft?
„Orlando“ an der Oper Köln – Oper in NRW 11/24
Unerwartet Kaiserin
„Der Kreidekreis“ in Düsseldorf – Oper in NRW 11/24
„Was dieser Mozart gemacht hat, will ich auch machen“
Komponist Manfred Trojahn wird 75 Jahre alt – Interview 10/24
Horror und Burleske
Die Spielzeit 24/25 am Gelsenkirchener MiR – Oper in NRW 07/24
„Das ist fast schon eine Satire“
Alexander Becker inszeniert „Die Piraten von Penzance“ am Opernhaus Dortmund – Premiere 07/24
Opern-Vielfalt am Rhein
„Nabucco“ eröffnet in Düsseldorf die Spielzeit 2024/25 – Oper in NRW 06/24
Welt ohne Liebe
„Lady Macbeth von Mzensk“ am Theater Hagen – Oper in NRW 05/24
„Erstarrte Konzertrituale aufbrechen“
Interview mit dem Direktor des Dortmunder Festivals Klangvokal, Torsten Mosgraber – Interview 05/24
Die Gefahren der Liebe
„Die Krönung der Poppea“ an der Oper Köln – Oper in NRW 05/24
Der Ring und ein schwarzer Berg
Wagner-Kosmos in Dortmund zu „Mythos und Wahrheit“ – Oper 05/24
Noten sind nicht maskulin
Das Komponistinnenfestival Her:Voice in Essen – Festival 05/24
Absurde Südfrucht-Fabel
„Die Liebe zu den drei Orangen“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 04/24
„Kritische Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit“
Kapellmeister Hermes Helfricht über Werner Egks „Columbus“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 06/24
Grund des Vergessens: Rassismus
Oper von Joseph Bologne am Aalto-Theater Essen – Oper in NRW 03/24
Verpasstes Glück
„Eugen Onegin“ in Bonn und Düsseldorf – Oper in NRW 02/24
Täuschung und Wirklichkeit
Ein märchenhafter Opern-Doppelabend in Gelsenkirchen – Oper in NRW 02/24
Unterschätzte Komponistin?
„Der schwarze Berg“ an der Oper Dortmund – Oper in NRW 01/24
Geschlossene Gesellschaft
„Flight“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 01/24