Fünf Religionen, 94% Migrationshintergrund – solche Zahlen werden gerne in den Raum geworfen, wenn die Diskursmaschine anläuft, um über das Für und Wider einer „Multikulturellen Gesellschaft“ zu theoretisieren. Im Evangelischen Luther-Kindergarten in der Dortmunder Nordstadt sind solche Zahlen die Realität. „Wir können hier nicht Dienst nach Vorschrift machen“, meint Andrea Schaedel. Seit fünfzehn Jahren arbeitet sie in der Einrichtung in der Lutherstraße und hat schon einiges erlebt. – von der Mutter, die eine Kleiderspende auf dem Trödelmarkt verkaufen musste, bis hin zur gemeinsamen Feier von Weihnachten und Zuckerfest.
Über die Jahre haben sie und die Kindergartenleiterin Heike Schaup einen routinierten Umgang mit dem entwickelt, was die Wissenschaft als „Interreligiosität“ behandelt. Der Luther-Kindergarten ist eine evangelische Einrichtung, in der die meisten Kinder muslimischen Glaubens sind. „Viele Eltern finden gut, dass wir ein kirchlicher Kindergarten sind“, berichtet Heike Schaup. Im Alltag zeigt sich das in kleinen Dingen: Es gibt Tischgebete, teilweise werden Bibelgeschichten erzählt, aber auch die islamischen Feiertage erläutert. Bei den Mahlzeiten richtet man sich nach den Essgewohnheiten der Kinder. Es gibt kein Schweinefleisch, das Weingummi ist frei von Gelatine. Theologische Konflikte werden nicht geführt. „Wir haben hier keine Hardliner“, beschreibt Andrea Scheele die Eltern. „Sie sind religiös, aber im Alltag pragmatisch.“ Mit einem ähnlichen Pragmatismus geht der Kindergarten an die Spracherziehung heran. Zwar wird in den Morgenkreisen Deutsch gesprochen, aber es wird nicht forciert. Im Gegenteil, eine gute Sprachkompetenz in der Muttersprache erleichtert den Kindern das Deutschlernen.
Die Probleme an der Luther-Straße haben weniger mit verschiedenen Kulturen als mit Armut zu tun
Egal ob fehlende Turnkleidung oder mangelhafte Ernährung – im Alltag sind die Erzieherinnen des Lutherkindergartens eher mit Problemen konfrontiert, die wenig mit dem Zusammentreffen verschiedener Kulturen zu tun haben, sondern mit der hohen Armutsquote im Stadtteil. 43% der Familien mit Kindern im Lutherkindergarten beziehen staatliche Unterstützung. Sorgen, dass die Einführung des Betreuungsgeldes zu einem Exodus aus dem Kindergarten führen könnte, machen sich die beiden Erzieherinnen nicht. „Vielleicht gibt es ein, zwei einkommensschwache deutsche Familien, die ihre Kinder zu Hause lassen würden“, vermutet Heike Schaup, „die meisten Familien würden das aber nicht in Anspruch nehmen.“
Die alltäglichen Schwierigkeiten werden durch die Debatten in der Politik nicht erleichtert – im Gegenteil. Die Erzieherinnen befürchten, dass ihre Arbeit weniger Anerkennung erfährt, oder finanzielle Mittel für Sprachförderung und kostenloses Mittagessen nicht bereitgestellt werden. Schließlich wissen die Erzieherinnen an der Lutherstraße, wie man zielgenau helfen könnte. Theoretisiert wird halt woanders.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Kinder im Garten und Kinder im Kindergarten
Möglichkeiten zur Betreuung der ganz Kleinen - THEMA 07/12 KITA
„Merkel drückt den Frauen ein altes Rollenbild auf“
Manuela Schwesig über Kita-Ausbau und Betreuungsgeld – Thema 07/12 Kita
„Für Kinder ist das Gefühl der Geborgenheit sehr wichtig“
Ursula Doppmeier zu der Frage der richtigen Kinderbetreuung - Thema 07/12 Kita
Heilige Kühe
Wenn Mutterrollen auf die schiefe Bahn geraten - Thema 07/12 Kita
Gegen welche Regel?
Intro – Flucht und Segen
Schulenbremse
Teil 1: Leitartikel – Was die Krise des Bildungssystems mit Migration zu tun hat
„Die Kategorie Migrationshintergrund hat Macht“
Teil 1: Interview – Migrationsforscher Simon Moses Schleimer über gesellschaftliche Integration in der Schule
Bildung für Benachteiligte
Teil 1: Lokale Initiativen – Der Verein für multikulturelle Kinder- und Jugendhilfe in Bochum
Rassismus kostet Wohlstand
Teil 2: Leitartikel – Die Bundesrepublik braucht mehr statt weniger Zuwanderung
„Ein Überbietungswettbewerb zwischen den EU-Staaten“
Teil 2: Interview – Migrationsforscherin Leonie Jantzer über Migration, Flucht und die EU-Asylreform
Ein neues Leben aufbauen
Teil 2: Lokale Initiativen – Der Verein Mosaik Köln Mülheim e.V. arbeitet mit und für Geflüchtete
Zum Schlafen und Essen verdammt
Teil 3: Leitartikel – Deutschlands restriktiver Umgang mit ausländischen Arbeitskräften schadet dem Land
„Es braucht Kümmerer-Strukturen auf kommunaler Ebene“
Teil 3: Interview – Soziologe Michael Sauer über Migration und Arbeitsmarktpolitik
Ankommen auch im Beruf
Teil 3: Lokale Initiativen – Bildungsangebote für Geflüchtete und Zugewanderte bei der GESA
Das Recht jedes Menschen
Die Flüchtlings-NGO Aditus Foundation auf Malta – Europa-Vorbild Malta
German Obstacle
Hindernislauf zur deutschen Staatsbürgerschaft – Glosse
Weihnachtswarnung
Intro – Erinnerte Zukunft
Nostalgie ist kein Zukunftskonzept
Teil 1: Leitartikel – Die Politik Ludwig Erhards taugt nicht, um gegenwärtige Krisen zu bewältigen
„Nostalgie verschafft uns eine Atempause“
Teil 1: Interview – Medienpsychologe Tim Wulf über Nostalgie und Politik
Lebendige Denkmäler
Teil 1: Lokale Initiativen – Die Route Industriekultur als Brücke zwischen Gestern und Heute
Aus Alt mach Neu
Teil 2: Leitartikel – (Pop-)Kultur als Spiel mit Vergangenheit und Gegenwart
„Früher war Einkaufen ein sozialer Anlass“
Teil 2: Interview – Wirtschaftspsychologe Christian Fichter über Konsum und Nostalgie
Spenden ohne Umweg
Teil 2: Lokale Initiativen – Das Netzwerk 2. Hand Köln organisiert Sachspenden vor Ort
Glücklich erinnert
Teil 3: Leitartikel – Wir brauchen Erinnerungen, um gut zu leben und gut zusammenzuleben
„Erinnerung ist anfällig für Verzerrungen“
Teil 3: Interview – Psychologe Lars Schwabe über unseren Blick auf Vergangenheit und Gegenwart