Liebe macht blind. Oder doch hellsichtig? In Otfried Preußlers Roman „Krabat“ ist es eher spontane Zuwendung in einer akuten Notlage, die bei dem Waisenjungen Krabat die Erkenntnis anstößt, dass mit der Mühle seines Meisters irgendetwas nicht stimmt. Und dass die Magie, die das Räderwerk laufen lässt, keine menschenfreundliche, lebensfördernde Macht ist. Sondern Jahr für Jahr ihren dunklen Tribut fordert.
Im Grunde ist es ein einfaches Märchen, das Coppelius und Himmelfahrt Scores (Peter Häublein, Roman Vinuesa, Jan Dvořák) sich vorgenommen haben. Sie knüpfen an den Erfolg von „Klein Zaches, genannt Zinnober“, einer „Steampunk-Oper“ nach E.T.A. Hoffmann an, die 2015 und bei der Wiederaufnahme 2018 am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen bejubelt wurde. 2019 war das Nachfolgeprojekt geplant, da starb der geniale „Klein Zaches“-Darsteller Rüdiger Frank. Und dann verhinderte die Pandemie die Premiere …
Um ein Haar hätte die Uraufführung wieder nicht stattgefunden: Aber Regisseur Manuel Schmitt spielte für den erkrankten Joachim G. Maaß selbst den „Meister“; Heribert Feckler lieh ihm dazu die Stimme. Schmitt lässt die Lehrlinge in der Mühle als Herde grauer Arbeitssklaven auftreten. Das Schleppen der Säcke sieht eher nach Schikane aus. Nach und nach lernt der Zuschauer gemeinsam mit Krabat die Mittel totalitärer Macht kennen: Die vermeintliche Elite einer „geheimen Bruderschaft“ soll zusammenschweißen, das Unterdrücken sexuellen Begehrens dient als Herrschafts- und Kontrollmittel, innerhalb der Gruppe darf es keine Solidarität geben: „Keiner hilft keinem“.
Dass sich Nächstenliebe nicht ausrotten lässt und Krabat mit seiner von Bele Kumberger bewegend gestalteten Helferin Kantorka die Mühle zusammenbrechen lässt, ist die tröstliche Botschaft des Stücks. Bei Schmitt stehen die von der Magie der Macht befreiten Müllergesellen jedoch im Leeren: Was kommt, ist offen, sie müssen für sich oder gemeinsam ihren Weg ins selbst gestaltete Leben finden.
In den düsteren Räumen Julius Theodor Semmelmanns mit dem Schatten eines riesigen Mühlrads und einem zentralen Star-Wars-Tunnel spielen die Musiker von Coppelius mit Klarinetten, Cello, Kontrabass und Schlagzeug atmosphärisch treffende Musik. Peter Kattermann führt im Hintergrund die Neue Philharmonie Westfalen durch mal minimalistische, mal ätherische Klänge. Bastille (Sebastian Schiller) ist ein beeindruckend präsenter Krabat, Graf Lindorf erinnert als Lyschko an die sadistischen Schergen totalitärer Systeme. Max Coppella lässt sich als Michal die Menschlichkeit nicht austreiben und stärkt damit den Mut Krabats zum Widerstand. Gesanglich sind die Mitglieder von Coppelius auf unterschiedlichem Niveau; so ist bei Martin Petschan als Juro – wegen eines gebrochenen Fußes im Rollstuhl – der Abstand zwischen der vokalen und der charakterstarken darstellerischen Gestaltung doch erheblich.
Dass sich die drei Stunden am Ende doch ziehen, liegt wohl auch an dem dramatisch flach gehaltenen Libretto Ulf Schmidts und der kontrastlosen Story. Dennoch großer Jubel für ein ambitioniertes Experiment – und nicht nur die Steampunk-Gemeinde dürfte ihre Freude haben.
Krabat | WA 2., 3., 8., 22., 23.10., 11.11. | Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen | 0209 409 72 00
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