Wer wird das Opfer sein? Das ist die Frage, die sich mit jeder Choreographie zu Igor Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ stellt. Die Tänzer des Beijing Dance I LDTX geben eine interessante Antwort: Alle werden Opfer sein! Die einzige Tanzkompanie, die sich in China unabhängig vom Staat formieren konnte, präsentierte sich im Rahmen der inzwischen legendären Tanz-Gastspielreihe der Oper Köln im Mülheimer Palladium. Schon in den Arbeiten der Chinesischen Fotografen, die derzeit in der opulenten Ausstellung „Made in China“ im Museum für Angewandte Kunst Köln zu sehen sind, fällt die ebenso subtile wie entschlossene Haltung auf, mit der Chinesische Künstler heute die gesellschaftlichen Zustände in ihrer Heimat kritisch kommentieren.
Strawinskys Opferschlacht ist dafür eine ideale Vorlage. Li Hanzhong und Ma Bo spielen das Thema in ganzer Breite aus. In roten Tüchern fliegen die Formationen durch die Luft, aber nur als ironische Zitate von Maos Roten Garden. „All River Red“ heißt die Choreographie und Flüsse aus Strömen von Blut sind im roten Licht auch auszumachen. Ebenso wie die Massen die niedergemäht werden. Alle sind Opfer, wenn schließlich auch an einem, das hilflos flattert wie eine angeschossene Ente, der heidnische Ritus vollzogen wird. Den entnahm Strawinsky russischen Dorflegenden, aber er passt dann doch so treffend in die zivilisierte Moderne mit ihren Rückfällen in die Barbarei.
Schon im ersten Teil, der mit einer ohrenbetäubenden Klang-Collage aus harten Schlägen und dem Sirren akustischer Peitschen von Dickson Dee unterlegt war, konnte man beobachten, wie die Einzelnen von der Gruppe gerichtet werden. Auch hier bietet Köln mit seinem umfangreichen Programm zum China-Jahr das Pendant chinesischer Künstlerkollegen. Im Forum für Fotografie sind derzeit die Fotografie von Mu Chen und Shao Yinong zu sehen, die jene Versammlungshallen zeigen, in denen Menschen durch Schläge oder Gesten öffentlich gedemütigt wurden. Dass die Choreographie von Beijing Dance I LDTX „Standing before Darkness“ heißt, trifft das Thema punktgenau. Man erlebt die Furcht vor der Dunkelheit, der Gewalt, dem Unberechenbaren. Immer wieder ergeben sich Situationen, in denen Einzelne der Gruppe gegenüber stehen. Es geht mit verhaltener Ruppigkeit auf der Bühne zu. Obwohl die Eleganz und Geschmeidigkeit der Chinesen selbstverständlich in jeder Bewegung präsent bleibt. Mehr als einen Stuhl braucht die Truppe nicht, um eine Dreiviertelstunde packende Tanzmomente zu bieten, die im Detail alle schon einmal zu sehen waren, in ihrer Summe aber kraftvollen Ausdruck besitzen. Zwischen formaler Perfektion und augenzwinkernder Metaphorik ist hier alles möglich. Ein beklemmendes Stück über die Furcht, das die Besucher trampelnd und klatschend in Begeisterung versetzte. Das sind dann die Augenblicke, in denen man sich erinnert, dass der Rat den Kölnern diese grandiose Gastspielreihe für die Zukunft schon gekappt hat.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Besiegt Vernunft die Leidenschaft?
„Orlando“ an der Oper Köln – Oper in NRW 11/24
Die Gefahren der Liebe
„Die Krönung der Poppea“ an der Oper Köln – Oper in NRW 05/24
Ein Schluck auf die Liebe
„Der Liebestrank“ an der Oper Köln – Oper in NRW 11/23
Lynchmord in New Orleans
Uraufführung von „The Strangers“ an der Oper Köln – Oper in NRW 09/23
Komplexer Märchenstoff
„Die Frau ohne Schatten“ in der Oper Köln – Oper in NRW 08/23
Bedrohung aus dem Inneren
Uraufführung von „La bête dans la jungle“ an der Oper Köln – Oper in NRW 04/23
Des Seemanns Apokalypse
„Der fliegende Holländer“ an der Oper Köln – Oper in NRW 03/23
Verblendete Väter
„Luisa Miller“ an der Oper Köln – Oper in NRW 02/23
Triumph der Güte
„La Cenerentola“ an der Oper Köln – Oper in NRW 12/22
Verkannte Liebe
„Der Zwerg / Petruschka“ an der Oper Köln – Oper in NRW 11/22
Liebe und Göttliche Aufträge
„Les Troyens“ an der Oper Köln – Oper in NRW 09/22
Im Stil der Commedia dell‘arte
„Il Barbiere di Siviglia“ an der Oper Köln – Oper in NRW 06/22
Im Kreisrund sind alle gleich
4. Ausgabe des Festivals Zeit für Zirkus – Tanz in NRW 11/24
War das ein Abschied?
Sônia Motas „Kein Ende“ in den Kölner Ehrenfeldstudios – Tanz in NRW 10/24
Supergau?
Die TanzFaktur steht wieder einmal vor dem Aus – Tanz in NRW 09/24
Kaffee, Kuchen, Stacheldraht
12. Tanz.Tausch Festival in der Kölner TanzFaktur – Tanz in NRW 08/24
Wunderbar: alles ohne Plan
„Leise schäumt das Jetzt“ in der Alten Feuerwache – Tanz in NRW 07/24
Vor der Selbstverzwergung
Ausstellung zu den „Goldenen Jahren“ des Tanzes in Köln – Tanz in NRW 06/24
Philosophie statt Nostalgie
Das Circus Dance Festival in Köln – Tanz in NRW 05/24
Das Unsichtbare sichtbar machen
Choreographin Yoshie Shibahara ahnt das Ende nahen – Tanz in NRW 04/24
Tennismatch der Kühe
„Mata Dora“ in Köln und Bonn – Tanz in NRW 03/24
Kommt die Zeit der Uniformen?
Reut Shemesh zeigt politisch relevante Choreographien – Tanz in NRW 02/24
Am Ende ist es Kunst
Mijin Kim bereichert Kölns Tanzszene – Tanz in NRW 01/24
Eine Sprache für Objekte
Bundesweites Festival Zeit für Zirkus 2023 – Tanz in NRW 11/23
Die Sprache der Bewegung
Die Comedia lockt das junge Publikum zum Tanz – Tanz in NRW 10/23