Es ist seine Bodenständigkeit, die ganz zentral die Qualität der Inszenierungen Immo Karamans ausmacht. Statt blumige, intellektuell abgehobene Konzepte zu ersinnen, bringt er den Knackpunkt der Handlung ganz sachlich auf den Punkt. Und irgendwie hat sich diese zentrale Frage fast jeder schon einmal gestellt, der Puccinis „La Bohème“ gesehen hat: Warum geht dieser Rodolfo nicht einfach mal arbeiten, um seiner Geliebten Mimì die Medizin zu kaufen, die sie zum Überleben braucht?
Die Antwort ist gänzlich unromantisch, letztlich sogar völlig erbärmlich, und sie trifft die trostlose, tieftraurige Stimmung am Ende der Oper haargenau: Es gibt einfach solche Typen, die nicht dazu in der Lage sind, Verantwortung zu übernehmen – nicht für sich selbst und erst recht nicht für jemand anderen, möge die vermeintliche Liebe auch noch so groß erscheinen.
Damit hat Karaman auch schon die perfekte Parallele gefunden zwischen den brotlosen Künstlern im Pariser Quartier Latin des 19. Jahrhunderts zu den gut gebildeten Bürgerkindern unserer Zeit, die einfach nicht erwachsen werden wollen und in Phantasiewelten leben. Karaman, der auch für das Bühnebild verantwortlich ist, hat ein treffendes – zumindest zunächst – witziges Bild für die dünne Fassade der Bohème gefunden: Papier und Pappe. Daraus ist fast alles auf der Bühne – sogar die Wohnung der Lebenskünstler ist eine Pappkiste. Kostümbildner und Choreograf Fabian Posca hat dazu sogar den Chor mit Papierkostümen ausgestattet. Die Idee dahinter: Studenten wie Rodolfo, Marcello, Colline und Schaunard ziehen oft um und leben quasi aus der Umzugskiste. Die Idee ist gut, vor allem wissen Karaman und Posca, das Personal zwischen den Kartons ständig auf Trab zu halten.
Den zentralen Bohèmien, Rodolfo, der am Ende so kläglich scheitern wird, zeigen Karaman und Posca nicht als Schönling und Lebemann, sondern als introvertierten Nerd mit Harry-Potter-Brille und Beatles-Haarschnitt. Zu dem jungen Tenor Sangmin Jeon passt das haargenau. Stimmlich ist die Besetzung ein Volltreffer. Jeon wurde einst mit dem Ehrentitel „Beste Puccini-Stimme 2012“ ausgezeichnet. Und dem ist kaum noch etwas hinzuzufügen. Bereits mit seinen ersten kurzen Phrasen lässt er aufhorchen: so präsent und klar, so fein in seinen Gestaltungsmöglichkeiten. Jeon erfüllt diesen hohen Anspruch auch in den schwierigen Passagen mit kraftraubenden Spitzentönen ohne Abstriche.
In der jungen Gastsolistin Li Keng als Mimì findet er eine ideale weibliche Entsprechung. Die Sopranistin aus Taiwan ist eine echte Entdeckung: Auch sie klingt jugendlich und zerbrechlich, verfügt aber in den dramatisch aufgeladenen Momenten über eine erstaunliche Durchsetzungskraft ohne klangliche Einbußen. Keng und Jeon sind sowohl für die Regie als auch für Generalmusikdirektorin Julia Jones ein Glücksfall. Und in diesem Bewusstsein erbringen auch die Wuppertaler Sinfoniker und nicht zuletzt der um Kinder- und Jugendliche erweiterte Chor (Leitung: Markus Baisch) wahre Glanzleistungen.
Auch die übrige, durchweg noch sehr junge Solistenbesetzung lässt keine Wünsche offen: Ralitsa Ralinova ist die Partie der Kokotte Musetta wie auf den Leib geschrieben: mal aufbrausend und resolut im Auftritt, mal mitfühlend zart. So soll es sein! Das pralle Leben in die Künstler-WG bringen unterdessen der kernige Bariton Aleš Jenis als Gast sowie Simon Stricker als Schaunard und der Bass Sebastian Campione als Colline, die beide aus dem Ensemble stammen. Für Campione hat sich Ausstatter Posca einen besonderen Gag ausgedacht: Während der Bass seinen Schädel üblicherweise glattrasiert trägt, bekommt er nun eine lange Mähne verpasst, die jedem Heavy-Metal-Sänger zur Ehre gereichen würde.
Der Humor funktioniert in der ersten Häfte des Vierakters wunderbar, auch weil dem Regiegespann en detail jede Menge einfällt. Dann folgt der unweigerliche Fall in den Abgrund: Den Wintermorgen des dritten Akts verlegt Karaman in den schäbigen Hinterhof einer Diskothek. Die Pappfassade ist längst zerbröselt, und Rodolfo begegnet der totkranken Mimì zwischen den Müll-Containern, in die die einstige Scheinwelt der Künstler entsorgt worden ist. Spätestens dort, sagt der nüchterne Menschenverstand, wäre es Zeit, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Doch das kann Rodolfo nicht. Und so stirbt Mimì dann auch sehr einsam – obwohl alle um sie versammelt sind. Allein sie ertragen es nicht, ihr im Leiden ins Gesicht zu blicken. Eine ebenso bittere wie starke Szene steht am Ende einer durchweg beeindruckenden Produktion. Langer einhelliger Jubel für alle Beteiligten bei der Premiere.
„La Bohéme“ | 29.11., 7., 14.12. je 19.30 Uhr, 26.12. 18 Uhr | Opernhaus Wuppertal | 0202 563 76 66
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