Es war die große Zeit der musikalischen Freidenker und Revolutionäre: Alban Berg hatte knapp anderthalb Jahre zuvor seine Oper „Wozzeck“ auf die Bühne gebracht und dabei wie sein Meister Arnold Schönberg mit der traditionellen Harmonielehre radikal gebrochen. Da machte sich ein erklärter Erzfeind der Atonalen und Schüler des Spätromantikers Max Reger, daran, seinen tschechischen Landsleuten eine neue Volksoper im rein tonalen Stil und mit viel böhmischer Folklore zu präsentieren: Jaromír Weinberger komponierte „Schwanda der Dudelsackpfeifer“. 1927 erfolgte die nur mäßig erfolgreiche Uraufführung in Prag; dank einer deutschen Fassung von Max Brod kam dann aber doch noch der große Erfolg in ganz Europa und sogar in New York. Bis 1933 mit der Machtergreifung der Nazis das Stück vollständig von den Spielplänen verschwand und der jüdische Komponist Weinberger als Exilant in Vergessenheit geriet. 1964 nahm er sich in Florida das Leben.
Das Gelsenkirchener Musiktheater hat sich nun einer noch eher kurzen Reihe von Opernhäusern angeschlossen, die das Stück der Vergessenheit entreißen wollen. Michiel Dijkema hat den Zweiakter in fünf Bildern auf die Bühne gebracht, und zwar als Regisseur und Bühnenbildner. Bei Schwanda ist diese Kombination besonders glücklich, denn Weinberger hat mit seinem Librettisten Miloš Kareš aus verschiedenen europäischen Sagen und Märchen eine waschechte Märchenoper zusammengesetzt: Schwanda, dessen Dudelsack nicht etwa für das dröhnende Kriegsgepfeife der Schotten steht, sondern für ausgelassenen Tanz und Fröhlichkeit, sowie der tschechische Robin Hood Babinsky stehen im Mittelpunkt der Handlung. Sie ziehen gemeinsam in die Welt hinaus, um Abenteuer zu erleben. Sie treffen die Eiskönigin, sogar den Teufel, entgehen im letzten Moment dem Schafott und sind auch noch beide in Schwandas Frau Dorota verliebt.
Eigentlich sind die turbulente und humorvolle Handlung sowie die eingängige wie abwechslungsreiche Musik – Weinberger verquickte spätromantischen Stil mit modernen tonalen Einflüssen seiner Zeit – die idealen Zutaten für eine kindgerechte Familienoper – wäre bloß nicht die Aufmerksamkeitsspanne im Smartphone-Zeitalter so radikal geschrumpft. Mit fast zweieinhalb Stunden reiner Aufführungsdauer (plus Pause) und Weinbergers Neigung zu ausufernden Ouvertüren und Zwischenspielen, geht sein Stück sicher schon deshalb nicht mehr ohne Weiteres als kindgerecht durch. Dabei tun Regisseur Dijkema und seine Kostümbildnerin Jula Reindell tatsächlich sehr viel dafür, die Zuschauer zu fesseln. Die Menschenpyramide aus armen Seelen in der Hölle mit dem Teufel mittendrin, ist so spektakulär, dass nach der Pause spontan Zwischenapplaus aufbrandet.
Der Dudelsack kommt übrigens kurioserweise als Instrument gar nicht vor im Orchester. Und es sind noch nicht einmal zwingend Blasinstrumente, die erklingen, wenn Schwanda aufspielt. Aber es erklingt stets etwas Tanzbares. Die Partitur mag in ihrem Eklektizismus keinen echten Personalstil Weinbergers erkennen lassen, Orchestrierung und Vielfalt im Ausdruck belegen allerdings die handwerkliche Meisterschaft des Komponisten. Giuliano Betta dirigiert mit dem rechten Temperament und auch Fingerspitzengefühl für die feinen Klangzaubereien.
Mit dem agilen und stimmlich wendigen Bariton Piotr Prochera (alternierend mit Petro Ostapenko) ist Schwanda sehr passend besetzt, Uwe Stickert gibt mit klarem, kräftigen Tenor einen vierschrötigen Babinsky mit langem Haar und geflochtenem Bart. Ilia Papandreou singt die selbstbewusste Dorota mit jugendlich-glockenklarem Timbre. Mezzosopranistin Petra Schmidt darf als Eiskönigin und einzige Frau auch mal in sinistre Tiefen hinabsteigen. Bass Joachim Maaß punktet als durchaus sympathischer Teufel mit seinem großen Buffo-Talent.
„Schwanda der Dudelsackpfeifer“ | 31.8. 19.30 Uhr, 15.9. 15 Uhr, 22., 29.9. je 18 Uhr | Musiktheater im Revier | 0209 409 72 00
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