Wagnerianer brauchen gewöhnlich Sitzfleisch. Aufführungsdauern von etwa vier Stunden sind keine Seltenheit bei den Musikdramen Richard Wagners. Auch der musikhistorisch höchst bedeutsame Dreiakter „Tristan und Isolde“ sprengt mit Pause diese Marke. In Zeiten von Corona-Verordnungen sind solche Aufführungen nun erstmal nicht möglich. Auch das relativ zahlreiche Bühnenpersonal und das umfangreiche Orchester, das der Dichterkomponist vorgesehen hat, bereiten kaum lösbare Probleme.
Ausgewiesene Wagner-Experten
Einen Ausweg bietet die radikale Umsetzung eines Konzepts, das viele Regisseure zumindest im Ansatz schon bemüht haben: sich ganz auf die beiden Hauptpersonen und ihr Innenleben zu konzentrieren. Der Orchestermusiker und Arrangeur Armin Terzer hat Wagners Oper nach einem Konzept des Tenors Hans-Georg Wimmer von 220 auf 90 Minuten verdichtet, zu „Tristan XS“ für Kammerorchester und nur zwei Gesangssolisten. Mit der Sopranistin Daniela Köhler und Tenor Daniel Johansson sind ab Oktober zwei ausgewiesene Wagner-Experten als Tristan und Isolde auf der Bühne des Essener Aalto-Theaters zu erleben. Die musikalische Leitung hat Tomáš Netopil.
Als Künstler konnte sich Richard Wagner eigentlich nicht beklagen: Zwar hatte er sich mit seiner polarisierenden Ästhetik durchaus auch Gegner gemacht – darunter bedeutende wie Brahms oder Tschaikowski –, die Anerkennung als zukunftsweisender Komponist aber blieb ihm keineswegs verwehrt. Wagner hatte genauso prominente Freunde und Förderer wie den etwa gleichaltrigen Starpianisten und Komponisten Franz Liszt.
Ein epochales Werk
In der Liebe lief es für Wagner lange Zeit weit weniger rund: Von seiner ersten Ehefrau Minna fühlte er sich unverstanden, und seine gefühlte Seelenverwandte Mathilde Wesendonck war als Ehefrau eines seiner Gönner unerreichbar. Es kam, wie es kommen musste: Minna fand einen wohl etwas zu vertrauten Brief ihres Mannes an die Angehimmelte – und schickte ihn in die Wüste. Wagner stand mit Mitte vierzig plötzlich alleine da – und nutzte die Krise, um ein epochales Werk fertigzustellen: „Tristan und Isolde“.
„Da ich nun aber im Leben nie das eigentliche Glück der Liebe genossen habe“, schrieb Wagner 1854 an Liszt, „so will ich diesem schönsten aller Träume noch ein Denkmal setzen, in dem vom Anfang bis zum Ende diese Liebe sich so recht sättigen soll.“ Eine unmögliche Liebe, die gegen alle äußeren Umstände ihre Erfüllung im gemeinsamen Tod findet, ist Wagners Thema, das er mit musikalisch bis dahin nicht gekannten Mitteln ausdeutet. Über den seinerzeit revolutionären Tristan-Akkord, der die harmonischen Konventionen der Romantik sprengte, diskutiert die Musikwissenschaft bis heute.
Tristan XS | 2., 21.10., 11.12. je 19.30 Uhr, 11.10., 26.11. je 18 Uhr | Aalto-Theater Essen | 0201 812 22 00
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