Minimalistischer kann man kaum arbeiten. Das Viereck des Tanzbodens und zwei Tänzerinnen in Uniformen. Die Kostüme sind aber sexy auf Taille geschnitten, die Röcke kurz, und die Ambivalenz zwischen Verführung und Gleichmacherei ist komplett. Reut Shemesh verliert keine Zeit, um in ihrer Choreografie „Leviah“, die sie in der Tanzfaktur zeigte, zum Thema zu kommen. Die heute in Köln lebende Choreografin erinnert sich an ihren Wehrdienst in der Israelischen Armee. Eine Zeit, die für viele Teenager in Israel den Übergang von der Kindheit in die Erwachsenenwelt markiert. Nicht selten eine schmerzhafte Erfahrung. Das zeigt sie uns in einer Arbeit, die den Drill der Vereinheitlichung rekonstruiert und spürbar macht, wie man die Individualität von Menschen abschleift. Weiblichkeit wird darin negiert und trotzdem tritt auch die latente Erotik zwischen den Frauen zutage.
Reut Shemesh tanzt mit Hella Immler, wobei die Rollen unablässig wechseln, gerade noch sind sie ein Paar, dann sieht man sie als Feindinnen, plötzlich agieren sie als Freundin, Kameradin oder ungeliebter Zwilling. Der Prozess der weiblichen Initiation vollzieht sich auf vielen Feldern. Präzise wird mit dem Körper erzählt, ohne jede Ablenkung oder Sentimentalität, ein Tanzstück wie ein funkelnder Kristall, für das Shemesh nun den Kölner Tanzpreis gewann.
Bei einem Preis für den Tanz sollte es aber am Abend des 5. Dezember im Rahmen der Theaterpreisverleihung nicht bleiben. Denn im Mediapark ging diesmal auch der Darstellerpreis an eine Tänzerin. Sylvana Seddig wurde für ihre Leistungen in den Produktionen der Gruppe bodytalk und ihren eigenen Choreografien ausgezeichnet. Mit ihrer aktuellen Produktion „Tanzsyvanien“ bot sie das perfekte Kontrastprogramm zum Purismus einer Reut Shemesh. Im Stil einer großen Fernsehshow verwandelte sich die Bühne in der Halle von Barnes Crossing in ein Meer aus weißen Luftballons. Weiß, die Farbe der Unschuld und des Spermas, zwei beabsichtigte Assoziationen in einer Solo-Oper, die den monomanischen Gestus des Fernsehens mit Ironie und konsequentem Erkenntniseifer vorführte. Ob mit Kleid oder ohne, stets wird der Blick auf die Tänzerin zum Thema, gebrochen durch Kameras, Videoeinspielungen oder Kostüm. Mitunter weiß man gar nicht mehr, wer spricht und welches Bild nun live gesendet wird. Der Pornografie des Fleisches und der Sentimentalität bietet Sylvana Seddig so direkt die Stirn, dass aus der Produktion unweigerlich eine Performance wird. Was die Besucher von dieser medialen Tour de Force mitnehmen, ist ein verstörendes Erlebnis des Realen, das auch die von Seddig so wohlgesetzte Sprache hinter sich lässt. Die Wahrheit des Körpers wird zur ultimativen Aussage des Menschen, an der die medialen Surrogate zerschellen. An Mut und Konsequenz hat in diesem Jahr niemand zu Sylvana Seddig aufschließen können.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Das Paradies der Egoisten
Kristóf Szabó und die Vision vom optimierten Menschen – Tanz in NRW 09/18
Agentenaktion
LIGNA und interaktive Spiele im Stadtraum – Tanz an der Ruhr 09/18
Die innere Mechanik des Tanzes
Die Kölner tanzsociety wirbt für die Tanzkunst – Tanz am Rhein 04/18
Der Herzschlag des Publikums
Zeitgenössischer Zirkus erobert die freie Szene – Tanz in NRW 07/17
Gegen jede Vernunft
„Die Metabolisten“ und der Reiz verschieden gealterter Körper – Tanz in NRW 04/17
Feldstudien aus der Nähe
Tanzfestival „Into the fields“ in Bonn – Tanz in NRW 02/17
Der Zeit zwei Schritte voraus
Das Tanztheater bodytalk wechselt von Köln nach Münster – Tanz in NRW 08/16
Aufbrechende Wunden
Von Köln und Münster bis Berlin: Festival der Cie. Toula Limnaios – Tanz in NRW 07/16
Kurz und intensiv
Das Kölner Tanzfestival SoloDuo NRW – Tanz in NRW 05/16
Das Geschlecht inszenieren
Im Genderdiskurs finanziert Köln fragwürdige Tanzstücke – Tanz in NRW 03/16
Vermessung der Welt im Tanzschritt
Wuppertal positioniert sich mit einem Tanzfilm-Festival – Tanz in NRW 02/16
Der Blick hinter den Spiegel
Die 5. Biennale der Tanzausbildung findet in NRW statt – Tanz in NRW 02/16
Tanzen, auch mit Prothese
Inklusive Tanzausbildung von Gerda König und Gitta Roser – Tanz in NRW 01/25
Die Erfolgsgarantin
Hanna Koller kuratiert die Tanzgastspiele für Oper und Schauspiel – Tanz in NRW 12/24
Im Kreisrund sind alle gleich
4. Ausgabe des Festivals Zeit für Zirkus – Tanz in NRW 11/24
War das ein Abschied?
Sônia Motas „Kein Ende“ in den Kölner Ehrenfeldstudios – Tanz in NRW 10/24
Supergau?
Die Kölner TanzFaktur steht wieder einmal vor dem Aus – Tanz in NRW 09/24
Kaffee, Kuchen, Stacheldraht
12. Tanz.Tausch Festival in der Kölner TanzFaktur – Tanz in NRW 08/24
Wunderbar: alles ohne Plan
„Leise schäumt das Jetzt“ in der Alten Feuerwache in Köln – Tanz in NRW 07/24
Vor der Selbstverzwergung
Ausstellung zu den „Goldenen Jahren“ des Tanzes in Köln – Tanz in NRW 06/24
Philosophie statt Nostalgie
Das Circus Dance Festival in Köln – Tanz in NRW 05/24
Das Unsichtbare sichtbar machen
Choreographin Yoshie Shibahara ahnt das Ende nahen – Tanz in NRW 04/24
Tennismatch der Kühe
„Mata Dora“ in Köln und Bonn – Tanz in NRW 03/24
Kommt die Zeit der Uniformen?
Reut Shemesh zeigt politisch relevante Choreographien – Tanz in NRW 02/24
Am Ende ist es Kunst
Mijin Kim bereichert Kölns Tanzszene – Tanz in NRW 01/24