Anne Ratte-Polle wurde 1974 in Niedersachsen geboren und schon bald zu einer der erfolgreichsten Darstellerinnen auf deutschen Bühnen. Aktuell kann man sie live im Schauspielhaus Bochum erleben, wo sie in Herbert Fritschs Inszenierung von „Murmel Murmel“ zu sehen ist. Im Kino wirkt sie ebenfalls bevorzugt in anspruchsvollen Produktionen mit, von „Die Nacht singt ihre Lieder“ und „Willenbrock“ bis hin zu „Gegenüber“ und „Die Hannas“. Nun hat sie die weibliche Hauptrolle in „Es gilt das gesprochene Wort“ von Ilker Çatak übernommen, der am 1. August in den Kinos anläuft.
trailer: Frau Ratte-Polle, Marion ist als Pilotin eine Frau, die viele unterschiedliche Lebenswelten kennengelernt hat. Sind Sie auch viel unterwegs und neugierig auf andere Kulturen?
Anne Ratte-Polle: Ja, schon. Aber ich arbeite auch sehr viel und kann deswegen nicht so viel verreisen, wie ich gerne wollte. Ich habe eigentlich noch gar nicht so viel gesehen von der Welt. Aber ich interessiere mich generell sehr für andere Perspektiven und Sichtweisen. Das ist ja auch schon hinsichtlich von Alltagsdingen sehr interessant, welche anderen Gegenstände oder Stoffe in anderen Ländern verwendet werden oder was es dort für unterschiedliche Rituale oder Gerichte gibt. Ich genieße auch in Berlin sehr die Vielfalt der internationalen Restaurants.
Für den Film waren Sie für die Dreharbeiten vor Ort in der Türkei, wie haben Sie die unterschiedliche Lebenssituation der Menschen dort dann wahrgenommen?
In der Türkei war ich auch schon vor den Dreharbeiten ein paarmal gewesen, und man kann die türkische Lebensweise ja auch in Berlin oder in anderen Orten Deutschlands kennenlernen. Ich habe auch türkische Freunde, weswegen das für mich nichts komplett Neues oder Fremdes war. Man merkt vor Ort allerdings schon, dass es eine andere Welt ist, erst recht auch aufgrund der aktuellen politischen Situation. Aber eigentlich ist mir die Kultur sehr nahe, weswegen ich dann über Dinge, die ich nicht so gut kannte, schon überrascht war. Aber beim Drehen hat man nicht sonderlich viel Zeit, Land und Leute kennenzulernen. Man befindet sich dabei in einer ziemlichen Glasglocke und konzentriert sich auch sehr auf die Arbeit. Die Schönheit der Orte durften wir natürlich kennenlernen, auch durch Ilker Çatak [der Regisseur; die Red.], der aus dieser Region stammt.
Baran schlägt sich im Film zunächst als Loverboy durch. Kommt man als weibliche, westliche Touristin in der Türkei mit diesem Phänomen tatsächlich schnell in Kontakt?
Sex-Tourismus ist in der Tat ein sehr interessantes Phänomen. In Deutschland und der westlichen Welt nehmen wir eher Frauen als Prostituierte wahr. Einen Gigolo oder männlichen Prostituierten zu sehen, ist man bei uns nicht so gewohnt. In der Türkei ist es dahingehend eigentlich komplett umgekehrt. Ich möchte Prostitution jetzt gar nicht bewerten, es gibt viele, die damit ihren Lebensunterhalt verdienen und die das auch gerne machen oder ein Berufsethos haben. Prostitution muss ja nicht immer nur mit Leid verbunden sein. Für Frauen in der Türkei ist es, glaube ich, sehr schwer, mit Prostitution Geld zu verdienen, das scheint mir da eher den Männern überlassen zu sein. Man wird als westliche Frau an diesen Orten dann auch tatsächlich permanent angesprochen. Ich habe mich dann immer gefragt, was diese Männer eigentlich für ein Bild von mir haben und für welche Art von Frau sie mich halten. Das ist schon sehr, sagen wir mal, speziell dort.
Marion ist eine sehr reflektierte, verkopfte Person, lässt sich dann aber doch von ihren Gefühlen leiten und nimmt Baran aus einem Gutmenschen-Impuls heraus mit nach Deutschland...
Ich weiß gar nicht, ob das wirklich ein Gutmenschen-Impuls ist. Marion muss als Pilotin stets unglaublich viele Sicherheitschecks machen, es geht bei ihr permanent um Risikovermeidung. Diesen Beruf üben als Captain nur 3% der Frauen aus. Er ist also sehr speziell, und sie liebt diesen Beruf, der aufgrund ihrer Erkrankung für sie auf einmal für unbestimmte Zeit wegbricht. Auf einmal hat sie sehr viel Zeit, ist auf dem Boden und nicht mehr in der Luft. Schwachstellen, die sie ansonsten immer gut verdrängen konnte, quellen jetzt aus dem Boden hervor. Sie ist nun gezwungen, sich damit und mit sich selbst zu beschäftigen. Baran taucht in dieser Situation als ein unerwartetes Ereignis in ihrem Leben auf. Mit seinem Hilferuf „Hey, I need your help, please marry me, I have to get out of here“ kann sie besser umgehen als mit dem Mitleid, das ihr von ihrem Freund Raphael aufgrund ihrer Erkrankung entgegenschlägt. Das energetisiert sie und lenkt ihren Fokus eher auf das, was sie hat, als auf ein Defizit. Jemandem zu helfen und etwas abzugeben, verleiht ihr Kraft. Hinzu kommt, dass Baran ein sehr attraktiver junger Mann ist, den sie, im schön kontrollierbaren Rahmen einer Scheinehe, auch genießt, kennenzulernen. Sie hat also auch einen Gewinn. Und sie muss nicht mehr nur um sich selbst und ihre Krankheit kreisen, sondern hat eine neue Aufgabe, ein neues Betätigungsfeld.
Richtig, die Geschichte ist sehr komplex, und erhält durch die Tatsache, dass Baran Kurde und nicht Türke ist, eine weitere interessante Komponente...
Ja, die Tatsache, dass die Kurden in der Türkei eine Minorität darstellen und viel für ihre Rechte kämpfen mussten und noch immer müssen, verleiht dem Film eine weitere Komponente, die Ilker Çatak ganz bewusst ins Drehbuch hat einfließen lassen.
Ihr Zusammenspiel mit dem Newcomer Oğulcan Arman Uslu als Baran wirkt sehr natürlich. War da viel improvisiert oder gab es ein sehr fixes Drehbuch?
Man hat mich für das Casting der männlichen Hauptfigur nach Istanbul eingeflogen, weil ja die Chemie zwischen diesen beiden zentralen Figuren sehr wichtig ist. Oğulcan Arman Uslu war sehr offen und wach im Zusammenspiel. Es gab vorab ein sehr gutes Drehbuch. Zusätzlich hatten wir vor Drehbeginn einige Proben, in denen auch einiges entstanden ist, was dann ins Drehbuch eingeflossen ist. Beim eigentlichen Dreh blieb wenig Zeit zum Improvisieren. Den achtstündigen Arbeitstag haben wir sehr strikt eingehalten, weil wir uns als Low-Budget-Produktion keine Überstunden leisten konnten. Wir haben aber trotzdem sehr viel gedreht und 40 Minuten geschnittenes Material schließlich aus der finalen Fassung herausgenommen. Trotzdem schaut man natürlich, dass man sich beim Drehen im Moment befindet und Dinge passieren lässt, die man vorher vielleicht nicht weiß. Dafür schafft Ilker Çatak eine sehr gute Arbeitsatmosphäre vor Ort, in der man sich gut aufgehoben fühlt.
Man kennt Sie hauptsächlich aus anspruchsvollen Arthousekinofilmen, aber im Fernsehen sind Sie derzeit mit „Dark“ wieder immens erfolgreich. Haben Sie schon festgestellt, dass Ihnen die Serie einen neuen Fankreis erschlossen hat?
Ich freue mich immer total über die Reaktionen zu „Dark“. Ich finde auch, dass das eine ausgesprochen gute Serie ist, Baran bo Odar [Regisseur der Serie; die Red.] hatte befürchtet, dass „Dark“ eventuell zu sehr ‚arthouse‘ sein könnte, für Zuschauer nicht so leicht konsumierbar und deshalb nicht so gut ankommen könnte. Umso besser finde ich es jetzt, dass die Serie diesen großen Erfolg hat und bei den Zuschauern dennoch oder gerade deshalb so gut ankommt. Kürzlich habe ich bei einem Engagement an den Münchner Kammerspielen einen griechischen Regisseur kurz kennengelernt, und der hat mir jetzt, ein Jahr später, eine Message geschickt: „Liebe Grüße aus Athen, ich schaue gerade ‚Dark‘!“ Oder ein Freund aus Tel Aviv erzählte nach dem Besuch bei seiner Familie in Israel, dass mich seine Schwester kenne, aus ‚Dark“. So etwas ist schon toll, wenn man sieht, wie gut die Serie ankommt. Ich versuche, nur solche Sachen zu machen, die ich auch selbst gut finde, und die ich auch selbst als Zuschauer gerne ansehen würde, und wenn das dann auch anderen gefällt, ist das umso besser.
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