Instagram gab es noch nicht, als in den 1990er Jahren die Feuilletons mit dem Begriff „Popliteratur“ so unterschiedliche AutorInnen wie Christian Kracht, Rainald Goetz, Thomas Meinecke, Judith Herrmann oder eben Benjamin von Stuckrad-Barre als eine literarische Modeströmung zusammenfassten. Doch wie sie in ihren Romanen konsumorientiert bis dandyhaft Lifestyle, Reisen und vor allem Phänomene aus Internet und TV dokumentierten, das ist popliterarische Archivierung, wie sie mittlerweile auf Instagram inszeniert wird.
An diesem Abend versammelt Benjamin von Stuckrad-Barre das Publikum auf der Bühne für ein fettes Foto. „Gucci Gang“ von Lil Pump dröhnt aus den Boxen, während der Autor sein Publikum für das Instagram-Bild dirigiert. Als spätere Grundlage zum Taggen und Followen. Als wären die Sozialen Medien wie geschaffen für das Spiel der Popliteraten mit der Selbstprofilierung eines AutorInnenbildes, in dem es vorrangig um Konsum, Fan-Fetisch, TV-Trash und die eigene Biographie als Nahtstelle all dessen geht.
Das zelebriert auch Stuckrad-Barre bei dieser Lesung in der Zeche Bochum, wo er im Rahmen seiner Tour Halt gemacht hat: Eine Flagge, die er neulich bei einem Konzert von „Oasis“-Frontmann Joel Gallagher (denn dass Stuckrad-Barre die Brit-Pop-Band verehrt, wissen wir ja seit seinem Romanerfolg „Soloalbum“) erhielt, spannt der Autor um das Lesepult. Später gibt es eine Anekdote aus einem Telefonat mit Schriftsteller-Buddy Sven Regener. Noch später ein kurzes „Tocotronic“-Techtelmechtel mit einer Besucherin, bevor er schließlich das Smartphone anschmeißt, um den neuen Album-Song „Hey Du!“ mitzusingen.
Und auch die Koketterie mit dem eigenen Drogen-Konsum aus der Vergangenheit darf da natürlich nicht fehlen. Die Kokain- und Alkoholsucht, den späteren Entzug hat der Autor bereits vor zehn Jahren öffentlich zur Schau gestellt. Das war auch Thema in seinem autobiographischen Roman „Panikherz“.
Sein neuer Remix-Band schließt an die Bücher „Deutsches Theater“ und „Auch Deutsche unter den Opfern“ an und trägt den umständlichen Titel „Ich glaub, mir geht's nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen“. Dabei vollzieht Stuckrad-Barre darin eine Abkehr vom Selbstbezug à la „Panikherz“ und schreibt über das, was er wie kaum ein anderer Gegenwartsautor beherrscht: Zeitgeist-Beobachtungen, Diskurs-Chroniken und Begegnungen mit Weggefährten, vor allem viel Promigedöns. Ein Aufspüren der Gegenwart, an die er sich ganz nah heranschmeißt.
Da begleitet er 24 Stunden lang den umstrittenen Theologen und TV-Moderator Jürgen Fliege, sitzt bei ihm vor dem Fernseher und verfolgt, wie sich die üblichen TV-Duell-ProtagonistInnen duellieren: „beim Durchschalten trifft man schon wieder auf Karasek und Ditfurth, diesmal sitzen sie um Charlotte Roche herum, orchestriert von Sandra Maischberger, seltsam.“ Dann schildert er den Sommer während der WM 2010 und seinen Versuch, den begehrten hellblauen Jogi-Pullover zu erwerben, der damals erst wieder nach fünf bis sechs Wochen erhältlich war.
Konsum- und Zeitgeist-Trends, die vergessen zu sein scheinen. Hier sind sie archiviert, als Moment, als Jetzt. Keine Zukunft, keine Vergangenheit. Das ist die Popliteratur-Politik, die sich auch auf aktuelle Debatten übertragen lässt: Wichtig sei, da zu sein, die Herkunft interessiere ihn nicht, das ist an diesem Abend sein ironischer Einwurf in die Flüchtlingsdebatte: Der Pop-Literat zeigt Haltung. Um am Ende die Lesung wie bei einem Pop-Konzert mit einem Spaß-Spektakel ausklingen zu lassen: Eine Song-Einlage von Robbie Williams' „Angels“. Wie in den spaßigen 90ern. Mit dem Unterschied, dass das Happening auf Instagram zum Taggen einlädt.
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