Majas Schicksalsgemeinschaft besteht aus ihren Eltern, ihrem Bruder mit seiner schwangeren Frau, ihrer Großmutter, zwei Partisanen und einem Hund. Diese „Nachtgäste“ harren im Untergeschoss eines Museums aus, während Granaten auf Sarajevo fallen. Ihre Wohnungen sind zerstört. Von Freund:innen und Lehrer:innen in anderen Bereichen der belagerten Stadt abgeschnitten bringt Maja ihre Erlebnisse und Eindrücke zu Papier. Andere Menschen, räsoniert Maja, verfassen Reisebeschreibungen – sie hingegen eine „Bleibebeschreibung“.
Die 18-jährige Erzählerin entlarvt aus vermeintlich naiver Perspektive die irrwitzige Logik dieses Krieges: Bosnisch, Kroatisch, Montenegrinisch, Serbisch – die Sprache müsse erst einen Namen haben, damit die Leute wüssten, ob sie sie verstehen wollen. Auch ehemals alltägliche Grußformeln werden zur Abgrenzung von Überzeugungen genutzt. „Ich glaube, ich bin nicht imstande, einem ausländischen Durchschnittsleser zu erklären, warum hier Krieg geführt wird“, schreibt die Erzählerin an einer Stelle. Sie macht umso prägnanter auf all die Absurditäten aufmerksam, anhand derer Unterschiede gemacht und Feindbilder gezeichnet werden, wo vorher friedliches Zusammenleben möglich war.
Bisweilen ist der Stil der Erzählung lakonisch und die Erzählung nicht immer einfach zu verfolgen. Das mag unterstreichen, was in diesem Krieg alles unfassbar ist. In jedem Fall hilft Hintergrundwissen zum Bosnienkrieg und zur Belagerung Sarajevos, um Anspielungen zu verstehen, etwa wenn es um die Geringschätzung einiger Einwohner:innen für die „Blauen“ geht, also die Friedenstruppen der Vereinten Nationen.
Die Glasglocke, unter der die Nachtgäste einigermaßen sicher im Museum leben, nutzt Nenad Veličković als Brennglas. Ein ständiger Streit zwischen Vater und Bruder über die eigene Position in diesem Krieg steht exemplarisch für den Riss, der durch die Bevölkerung Sarajevos geht. Je länger die Belagerung andauert, desto öfter nimmt Paranoia bei den Erwachsenen überhand. Aus ihrer jugendlichen Perspektive kann die Erzählerin sich davon distanzieren und manchmal fast altklug aufzeigen, was vernünftig wäre. Ihre scharfzüngigen, ironischen Beobachtungen lesen sich oft vergnüglich, doch immer schwingt Ernst mit.
Nachtgäste | Aus dem Bosnischen von Barbara Antkowiak | Jung und Jung | 240 S. | 24 Euro
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